Jimmy und Crake wachsen auf in einer dystopischen Welt, die völlig denkbar erscheint. Diese Welt wird nicht mehr von Regierungen kontrolliert sondern von einigen wenigen Großkonzernen, die an der stetigen Verbesserung der Welt und der Nutzbarkeit der Erde arbeiten. Es werden Tierhybriden gezüchtet, die das beste aus zwei Rassen vereinen sollen, Schweine, in deren Körper Ersatz-Organe heranwachsen und Hühner, die nur noch aus Brustfilet bestehen. Dieser Einsatz ist dringend nötig, denn seit es nicht mehr regnet und die Winter nicht mehr existieren, ist Nahrung knapp geworden. Echte Nahrungsmittel gibt es nur noch für die Elite, der Rest gibt sich mit Imitaten zufrieden. Jimmy und Crake haben das Glück, dass ihre Eltern in der Forschung arbeiten und somit das Recht (und die Pflicht) haben, in einer der hochgeföhnten Siedlungen zu leben, die den Systemrelevanten vorbehalten bleibt. Der Rest der Menschheit lebt im Pleeblands genannten Umland, wo es erst recht keine echte Nahrung, keine Schulen und kaum medizinische Versorgung gibt.
Doch auch die gruseligste Dystopie ist mal vorbei und so treffen wir Snowman, wie Jimmy jetzt heißt, in einem verwüsteten Niemandsland, wo er, in ein altes Laken gehüllt, auf einem Baum lebt. In seiner Nähe leben Craker, genetisch perfekt aufgestellte Menschen, denen jede Argwohn fehlt und Crake als ihren Gott anbeten. Jimmy finden sie seltsam, aber seit er behauptet, es sei Crakes Gebot, dass sie für ihn einen Fisch pro Woche fangen, bekommt er wenigstens etwas Eiweiß.
Warum Jimmy jetzt auf einem Baum leben muss und was aus Oryx und Crake geworden ist, erfährt man nach und nach und vor allem über Rückblenden. Die Jugend der beiden Jungen ist, genauso wie der Rest ihrer Welt, so gruselig wie realistisch. Die hauptsächliche Unterhaltung der beiden besteht aus einem Online-Spiel, nebenbei gucken sie sich Hinrichtungen und Kinderpornographie an (und hier wird es teilweise ganz schön explizit, das sollte man wissen). Große emotionale Regungen empfinden sie bei nichts davon. Bei der Schilderung der Forschung und Wissenschaft hält Atwood sich eng an Dinge, die bereits möglich oder zumindest in der Erforschung sind – und übertreibt sie dann noch ein bisschen. Ihre jahrzehntelange Beschäftigung mit der Umwelt und den Folgen ihrer Zerstörung klingt in diesem Roman ebenfalls durch.
„Strange to think of the endless labour, the lifting, the drilling, day by day, year by year, century by century; and now the endless crumbling that must be going on everywhere. Sandcastles in the wind.“
All die Themen und ihre sorgfältige Ausgestaltung bremst den Roman etwas aus und die tatsächliche Handlung ist dann auch ziemlich knapp – Snowman klettert vom Baum und macht sich auf, in der Hoffnung in der zerstörten Welt noch brauchbare Reste zu finden. Natürlich nur für ein paar Tage, ohne die Craker wäre er auf Dauer gar nicht lebensfähig. Diese Verzögerung ist aber gar nicht schlimm, denn Oryx & Crake ist nur der erste Teil einer Trilogie, die in The Year of the Flood und Maddaddam ihre Fortsetzung findet. Und ohne die beiden Bände zu kennen, glaube ich mit großer Sicherheit behaupten zu können, dass Atwoods Ideen auch dafür noch ganz problemlos reichen.
tl;dr: Der Roman spielt nach einer großen Katastrophe, die nur langsam aufgedeckt wird und wird erzählt aus der Sicht von Snowman, der als fast einziger überlebt zu haben scheint. Richtig gute Dystopie in überzeugender Welt.
Margaret Atwood: Oryx & Crake. Virago 2004. 436 Seiten. Erstausgabe McClelland and Stewart 2003. Eine deutsche Übersetzung von Barbara Lüdemann ist unter dem Titel Oryx & Crake bei Piper lieferbar.
Das Zitat stammt von S. 50.
Mit diesem Roman war Atwood 2004 für den Orange Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Ich bin auf Margaret Atwood ganz klassisch durch den Report der Magd aufmerksam geworden, den ich sehr mochte. In gewisser Weise haben mich manche Punkte von Orts & Crake daran jetzt erinnert, zugleich hört es sich aber auch auch noch düsterer und krasser an. Gerade was die Schilderungen über Kinderpornographie angeht, puh! Hast du es denn gerne gelesen? Spannend klingt es ja allemal! Ganz liebe Grüße 🙂
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Hallo Johanna,
ich habe es sehr gerne gelesen, fand es aber schon recht deutlich anders als die anderen Romane, die ich von Atwood kenne. Vor allem fand ich es ziemlich langsam, was das Erzähltempo angeht. Man merkt, dass die ganze Sache von Anfang an länger angelegt war. Alleinstehend, ohen die Fortsetzungen in Band 2 und 3, wäre das ganze auch keine überzeugende Geschichte.
Aber die nächsten Bände liegen hier schon, es kann bald weitergehen!
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