Leonard Lynskey steht die Welt offen. Er lebt in der Metropole London, die Jahre nach dem Weltkrieg sind voller Entbehrungen, aber auch voller Möglichkeiten. Lenny ist entschlossen, sie zu nutzen. Er ist jung, gewitzt und hat einen Onkel, der Einfluss genug hat, seinen Neffen quasi überall unterzubringen. Bei einer Tauglichkeitsuntersuchung aber bekommt er einen jähen Dämpfer: bei ihm wird Tuberkulose diagnostiziert. Seine Schwester Miriam hat er bereits angesteckt. Nur wenig später sind die beiden auf dem Weg nach Kent, wo sie in einem Sanatorium behandelt werden sollen.
Diesen vergleichsweise luxuriösen Aufenthalt haben sie dem neu gegründeten National Health Service zu verdanken. Die Geschwister aus dem East End gehören zu den ersten Patienten, die den Aufenthalt nicht aus eigener Tasche zahlen. Das übrige Klientel der Einrichtung ist nicht nur krank, sondern auch wohlhabend und kultiviert und auch hinreichend skurril um Leben in den Roman zu bringen. Das Sanatorium ist ein noch leidlich schicker, langgezogener Bau auf einer Anhöhe, alle Zimmer mit Balkonen, die ein bewaldetes Tal und das darin liegende Dorf überblicken. Miriam, die sich nur für Klatschzeitschriften, Make-Up und Frisuren interessiert, landet auf einem Zimmer mit der leidenden Literaturstudentin Valerie, während Lenny sich Zeit und Unterkunft mit Automobilverkäufer Colin teilt. Die Behandlungsmethoden im Sanatorium sind ineffizient, brutal oder beides. Miriam liegt tagelang neben Valerie auf dem Balkon und atmet vor sich hin, während man bei Lenny einen Lungenflügel künstlich kollabieren lässt in der Hoffnung, er möge sich dadurch erholen. Bei einigen werden gleich ganze Teile des Brustkorbs entfernt. Mögliche Hilfe verspricht das neue Antibiotikum Streptomycin, doch davon kann der NHS vorerst nur fünf Dosen auftreiben.
„The regime discouraged calendars, they made the inmates think they were enduring an indeterminate prison sentence. The were supposed to take each day as it came, the day, the day, the bloody day.“
Es sind graue Zeiten in Kent. Doch die Neuen, die wie Lenny und Miriam durch den NHS finanziert werden, bringen zumindest etwas Schwung in die Hütte. Sie dulden die Behandlungen nicht widerspruchlos, sie verschaffen sich Gehör und vor allem langweilen sie sich. Deshalb wird das langweilige Musikprogramm kurzerhand gekapert und auf der Kinderstation im obersten Stock werden, gegen den entschiedenen Protest der Pflegekräfte, Ballons verteilt. Der Raum, den der Roman einnehmen kann, ist naturgemäß sehr begrenzt und so auch das Geschehen. Tuberkulose-Erkrankte erleben keine großen Abenteuer, ein bisschen Liebe aber ist immerhin erlaubt. Die so enstehenden Lücken müssen eben mit was anderem gefüllt werden, seien es Unterhaltungen oder sonstwas, das aber fehlt The Dark Circle. Das öde Einerlei des Alltags hinterlässt auch seine Spuren im Roman. Abwechslung gibt es vor allem durch die Lynskey-Zwillinge und ihre Energie. Das Aufmischen der Welt der Reichen und Zarten durch die Armen und Wilden ist ein beliebter und bewährter Topos, der fast immer funktioniert, aber auch schnell ins Verklärte kippt, so auch hier.
Die gemeinsam durchlittene Krankheit reißt in dieser Geschichte alle gesellschaftlichen Grenzen ein. Die jungen Männer und Frauen um die der Roman kreist, bleiben auch nach ihrer Genesung verbunden, manche von ihnen sogar sehr eng. Sie finden sich zusammen im „Dark Circle“, einem eingeschworenen Kreis, dessen reine Existenz aus verschiedenen Gründen schon höchst unwahrscheinlich ist. Doch nicht nur die Freundschaften nehmen sie mit aus der Zeit ihrer Erkrankung, sondern mitunter auch erhebliche Folgeschäden, unter denen sie ihr ganzes Leben leiden werden.
The Dark Circle ist ein überzeugendes Portrait des Lebens in einem Sanatorium, kurz bevor eine verhältnismäßig einfache Heilung für Tuberkulose gefunden wurde. Die Patient*innen in Kent müssen noch den ganz schweren Weg gehen. Allerdings hakt der Roman an einigen Stellen dann doch. Zu eintönig ist das Erlebte und Grant gelingt es nicht immer, dieses zu wenig an Handlung mit einem mehr an Inhalt zu unterfüttern.
tl;dr: Eine Geschwisterpaar aus dem Londoner East End erkrankt 1950 an Tuberkulose und wird in ein Sanatorium in Kent eingewiesen. Eine Heilung gibt es für die Krankheit zu diesem Zeitpunkt noch nicht, die Behandlung besteht vor allem aus Liegekuren und brutalen Versuchen, die Lunge zu entlasten. Die beiden sind mit die ersten, die den Aufenthalt nicht selbst zahlen sondern über den NHS kommen und mischen den öden Laden ein bisschen auf. Am Ende aber wirklich nur ein bisschen – so richtig in die Gänge kommt der Roman nicht.
Linda Grant: The Dark Circle. Virago Press 2016. 310 Seiten. Eine deutsche Übersetzung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht angekündigt.
Das Zitat stammt von S. 197.
Der Roman war 2017 auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.
Interessant, ich hatte immer gedacht, Manns Protagonist hätte schon zeitlich Pech gehabt und die antibiotische TB-Behandlung hätte deutlich früher eingesetzt als 1952. Hab aber grad einien Artikel gefunden, der tatsächlich ziemlich genau dieses Datum nennt, ab dem es langsmam besser wurde… (Mehrteiler, 2 Teile & 7 Seiten, das ist die letzte): https://www.mta-dialog.de/artikel/die-tuberkulose-im-wandel-der-zeit-teil-2/seite/3.html
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Ich war auch überrascht. Ich hatte auch den Zauberberg so als kurz vor Heilung eingeordnet. Aber aus dem Artikel geht ja auch hervor, dass das noch weit länger ein Problem war und in vielen Teilen der Welt ja auch immer noch ist. Man vergisst das schnell, wenn Krankheiten im persönlichen Umfeld halt nicht existieren.
Sehr spannend fand ich übrigens die Erreger-Migration mittels Seelöwen. Vielen Dank für den Link!
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Das mit den anderen teilen der Welt ist mir dank leichter Germophobie bekannt 😉 Aber ich hätte schwören können, dass ich nach meiner ersten Lektüre (2005) zum Zauberberg recherchiert hatte & etwas gefunden hatte, dass es sich da um die Endphase der Sanatorien gehandelt habe… aber vll war das auch so gemeint, dass diese Sanatorien-Oberschichtkultur praktisch vorbei war, wg der beiden Weltkriege…
Ich wusste auch nicht, wie krass durchseucht Rinder früher waren…
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Das fand ich auch erstaunlich. Ich hatte mal gelernt, warum man mit Rohmilch und Rohmilchkäse vorsichtig sein muss, es aber auch offenbar wieder vergessen. Heimtückisch!
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Das liegt bestimmt auch noch an anderen Keimen. Vor der Zeit, da die Antibiotikaschwemme, mit der man Rinder vollpumpt, ihre Wirksamkeit verliert, kann einen echt gruseln… Aber hey, dass irgendein Keim die Welt lahmlegt, das ist doch ziemlich unwahrscheinlich 😀 (kann man irgendwie machen, dass das Grinsesmily zugleich weint?)
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Hallo Marion! Herzlichen Glückwunsch zum heutigen Tag! Dein Blog gefällt mir sehr gut.Der Orangen-Mandel-SchokokuchenIst wirklich prima saftig und schokoladig!Freue mich auf weitere Buchbesprechungen…Bleib gesund!Christiane u. A.Von meinem Samsung Galaxy Smartphone gesendet.
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Vielen Dank, Christiane! Schön, von euch zu hören. Beste Gesundheit auch für euch!
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