Die Entstehungsgeschichte von Frankenstein ist fast so berühmt wie der Roman selbst: Mary damals noch Godwin, später erst Shelley, verbrachte unter anderem mit Lord Byron und ihrem späteren Mann Percy B. Shelley einen grauenhaft verregneten Sommer am Genfer See. Zum Zeitvertreib schrieben die Anwesenden Schauergeschichten und trugen sie den anderen vor. Mit diesen Szenen beginnt auch Wintersons Roman um die grauenhafte Kreatur, die sein Erschaffer aus Leichenteilen zusammengesetzt hat.
Doch Winterson geht noch viel weiter und transportiert das Thema in die Gegenwart. Mit den heutigen Methoden können Kreaturen ganz anderer Art erschaffen werden. Roboter, die fast wirken wie Menschen, Gehirne, die keine Körper mehr brauchen und natürlich Sexbots, die ganz basale Bedürfnisse befriedigen. All das existiert bereits oder klingt zumindest nicht mehr völlig abwegig. Weniger abwegig zumindest als ein laufender Flickenteppich aus Leichenteilen. Der ganz moderne Prometheus heißt Victor Stein und ist Experte für Roboter und künstliche Intelligenz. Unter den Straßen von Manhattan betreibt er ein riesiges Hightech-Labor, in dem er Großteile seiner Forschung vor der Öffentlichkeit verbergen kann. Sein Geliebter und Handlanger ist der Arzt Ry Shelley. Ry ist kurz für Mary, denn Ry ist als Mädchen sozialisiert worden und lebt erst seit einigen Jahren unter dem Namen Ry – ein Fakt, der im Roman breit und breiter getreten wird. Begleitet werden die beiden in ihren Experimenten vom leicht trotteligen Ron, begeisterter Sexbot-Konstrukteur aus Wales und seiner nicht sehr klugen aber sehr gläubigen Partnerin Claire.
„Welchen Sinn hat Fortschritt, wenn er den wenigen nutzt, während die vielen leiden?“
Die Idee, das Frankenstein-Thema auf die modernen Möglichkeiten der Robotik und künstlichen Intelligenz zu übertragen, birgt große Möglichkeiten. Zu viele für Winterson. Der Roman ist so vollgepackt mit Ideen und Konzepten, dass er einfach überladen wirkt. Neben dem ohnehin schon großen und komplexen Thema der Stein’schen Experimente, gibt es auch noch eine Meta-Ebene, in der ein Mann namens Frankenstein von einem Frachter aufgegabelt und in die Londoner Irrenanstalt Bedlem eingeliefert wird, wo er auf seine Schöpferin Mary Shelley trifft und sie anfleht, ihn rückgängig zu machen. Dieser Teil des Romans wirkt noch dazu recht unbeholfen zwischen die übrigen Kapitel gequetscht.
Wirklich kritisch fand ich allerdings die Art, wie Rys Transsexualität behandelt wurde. Zwar erläutert Victor Stein an etlichen Punkten der Geschichte, für wie überkommen und wenig zukunftsträchtig er die Konzepte von Gender und Sexualität hält. In seiner Zukunft gibt es ohnehin nur noch körperlose Geister. Dennoch rückt beispielsweise die Diskussion um Rys Operationen, die er hat durchführen lassen, um seinen Körper männlicher zu machen, gefährlich nahe an die grotesken Operationen, die Stein und Frankenstein in ihren Laboren durchführen. Ohne Winterson unterstellen zu wollen, dass sie diese beiden Konzepte gleichsetzen möchte, entsteht auf diese Art eine unvermeidliche Nähe. Zumal Rys Transsexualität zur Geschichte wenig beiträgt außer ein weiterer modifizierter Körper zu sein.
Winterson rührt an einigen spannenden Fragen, die man sich im Zusammenhang mit Robotern stellen kann. Was braucht ein Mensch, um gerade noch ein Mensch und keine Maschine zu sein? Und was braucht ein Roboter, damit er einen Menschen ersetzen kann? Diese Fragen gehen aber in der hektischen Themenvielfalt des Romans ziemlich unter.
tl;dr: Winterson transferiert die Frankenstein-Geschichte ins 21. Jahrhundert und lässt einen Wissenschaftler namens Victor Stein Experimente an menschlichen Körpern und Gehirnen durchführen. Leider erliegt sie dem Charme der vielen Möglichkeiten, die das Thema bietet, wodurch der Roman ziemlich überfrachtet wirkt.
Jeanette Winterson: Frankissstein. Eine Liebesgeschichte. Kein & Aber 2019. 394 Seiten. Hardcover € 24,-. Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. Originaltitel: Frankissstein. A Love Story. Jonathan Cape 2019.
Das Zitat stammt von S. 296.