Aufstieg und Stillstand – „NW“ von Zadie Smith

Leah und Keisha wachsen gemeinsam auf in Londons Nordwesten, in Wohnblöcken, die nach wichtigen Philosophen benannt sind: Bentham, Locke, Russel, Hobbes, Smithes heißen die Koordinaten ihrer Jugend. Dass sie dort nicht bleiben wollen, ist beiden schnell klar. Denn trotz der vielversprechenden Namen ist ihre Wohngegend so trost- wie chancenlos. Wer bleibt, endet oft genug in Drogenabhängigkeit und Kleinkriminalität. Leah und Keisha haben große Pläne, studieren und versuchen, das beste aus ihrer Herkunft zu machen. Keisha muss sich dabei immer mehr anstrengen als Leah. Als Schwarze kann sie sich die rebellischen Eskapaden ihrer rothaarigen Freundin nicht erlauben. Ihre Mutter war immer darauf bedacht, dass ihre Kinder unter dem Radar bleiben, nie auffallen, sich immer ein kleines bisschen besser benehmen, bloß nicht unangenehm auffallen. Schließlich ändert Keisha sogar ihren Namen und wird als Natalie eine erfolgreiche Anwältin. So erfolgreich, dass Leah, die es „nur“ zur Sachbearbeiterin beim Sozialamt gebracht hat, sich bei ihren Einladungen zwischen all den etablierten Jurist*innen oft fehl am Platz fühlt. Natalies Einladungen geben ihr, die immer noch im Nordwesten lebt, das Gefühl, nur noch Staffage aus alten Tagen zu sein.

„She had been asked to pass the entirety of herself through a hole that would accept only part.“

Die Freunde ihrer Kindheit und ihre Geschwister, die in den Wohnblocks bleiben, folgen dem Weg der ihnen qua Geburt vorherbestimmt scheint. Einige werden früh Eltern, viele werden drogenabhängig, ebenso viele halten sich mit Kleinkriminalität über Wasser. Dabei machen sie auch vor Ihresgleichen nicht halt. Der Roman beginnt mit Shah, einer ehemaligen Schulkameradin Leahs, die ohne jede Skrupel mit einer rührseligen Geschichte 30 Pfund von Leah ergaunert. Und Nathan, in den Leah früher heimlich verschossen war, lebt mittlerweile auf der Straße. Felix, der ebenfalls im Viertel aufgewachsen ist, scheint es endlich geschafft zu haben, scheint einen Weg aus seiner Misere gefunden zu haben, als er überfallen und erstochen wird. Der Nordwesten lässt einen nicht so einfach gehen.

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Wie auch in The Autograph Man und White Teeth dreht sich der Roman im Kern um die lebenslange Freundschaft zweier Menschen in London. Auch im Milieu lassen sich Parallelen zu Smiths ersten Romanen feststellen, besonders zu White Teeth: Die Einwanderungsgeschichte von Keishas Familie spielt eine große Rolle, ebenso wie die Vorurteile zwischen den verschiedenen Gruppen, die gezwungen sind, in den Randbezirken der Stadt gemeinsam in trostlosen Blocks zu leben. Allerdings ist NW deutlich experimenteller aufgebaut und erzählt als die beiden anderen Romane. Natalies Werdegang beispielsweise wird in über 180 kürzesten Kapiteln erzählt, die zum Teil nur aus zwei oder drei Sätzen bestehen und Überschriften tragen, die sich nicht immer sofort erschließen. An anderen Stellen formen die Worte Bilder, die fast an konkrete Poesie erinnern.

Was im Roman passiert, wird oft mehr angedeutet denn erzählt und viele Leerstellen müssen selbst geschlossen werden. Man muss aufmerksam bleiben beim Lesen, sonst ist man schnell raus aus der Nummer. Einige Passagen werden sehr klassisch und stringent erzählt, andere sind fast schon ein Bewusstseinsstrom. Einige Seiten sind ein einziger Block, auf anderen stehen nur wenige Worte. Nicht immer ist sofort klar, wer spricht oder um wen es geht, auf welchen Wegen eine Kommunikation stattfindet. Man muss die Fetzen, die man über die Charaktere an dieser und jener Stelle aufschnappt, selbst zusammensetzen, um zu verstehen, wer die Menschen sind, von denen dieser Roman handelt. NW ist ein London-Roman, der mit Referenzen auf reale Orte nicht geizt, ein Führer durch das London, aus dem es kaum ein Entkommen zu geben scheint und das man als Touristin wahrscheinlich nie sehen wird. Dabei kann man, so der praktische Hinweis der selbst aus der Gegend stammenden Autorin, an der Bushaltestelle vor dem Poundland in Kilburn die besten Unterhaltungen der Stadt hören.


Zadie Smith: NW. Hamish Hamilton 2012. 295 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Tanja Handels ist unter dem Titel London NW bei Kiepenheuer & Witsch (TB bei Goldmann) erschienen.

Das Zitat stammt von S. 186.

2013 war Zadie Smith mit diesem Roman auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts „Women’s Prize for Fiction„.

 

5 Gedanken zu “Aufstieg und Stillstand – „NW“ von Zadie Smith

  1. soerenheim 15. Februar 2020 / 11:51

    Was mich an Smith fasziniert: Ihr Stil kommt immer ganz vom Gegenstand. London NW ist ein tougher kompakter Neo-Ulysses, On Beauty ein gediegener Bürgerlicher Roman mit Untiefen, White Teeth hat etwas von Rushdie. Da ist „Stil“ kein Autoren-Erkennungszeichen mit dem man Bücher verkauft, sondern wirklich etwas, das immer neu entwickelt wird, um Handlung, Setting usw gerecht zu werden. Smith klingt nie (wie etwa Rushdie mittlerweile) wie eine Imitation ihrer selbst.
    NW möchte ich mir nochmal als englisches Hörbuch zulegen. Auch wenn ich den dritten Teil nicht so gelungen fand (https://soerenheim.wordpress.com/2018/01/30/london-nw-kompakter-grossstadtroman-mit-kleinerem-durchhaenger/)

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  2. Xeniana 15. Februar 2020 / 12:50

    Du hast mich mit dieser Rezension, neugierig auf Zadi Smith gemacht.

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    • Marion 15. Februar 2020 / 18:44

      Sehr schön! Da gibt es viel zu entdecken.

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  3. Xeniana 15. Februar 2020 / 18:46

    Hab mir noch schnell NW aus der Bibliothek geholt, fällt mir aber nicht leicht. Ich komme irgendwie nicht rein.

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    • Marion 16. Februar 2020 / 14:00

      Das war ja wirklich schnell entschlossen! Leicht zugänglich ist das Buch in der Tat nicht. Stilistisch tut sich noch einiges, möglicherweise kriegt es dich ja doch noch? Falls nicht, probiere es vielleicht mal alternativ mit „White Teeth“, das ist zwar um einiges umfangreicher, aber auch zugänglicher und stringenter, zumindest habe ich es so empfunden.

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