Eva und Franklin sind glücklich liiert und leben in New York. Er ist Location-Scout, sie führt erfolgreich einen Verlag, der Reiseführer für Backpacker verlegt. Eva liebt das Reisen und sie liebt das Leben in New York. Für sie gibt es keinen Grund, etwas zu ändern. Doch dann beschließen die beiden, ein Kind zu bekommen. Ein Entschluss den Eva nicht zu Ende gedacht hat, wie sie bald feststellen muss. Als sie von ihrer Schwangerschaft erfährt, fällt sie vor Entsetzen fast in Ohnmacht. Mit der Geburt von Kevin ändert sich alles und nichts davon zum Guten.
Eva erzählt die Geschichte aus ihrer Sicht in langen Briefen an ihren Mann. Sie beginnt am 8. November 2000 und erzählt ihm, wie es ist, ihren Sohn jeden Samstag im Jugendgefängnis zu besuchen. Dort sitzt er, seit er im April 1999, wenige Tage vor seinem 16. Geburtstag, sieben Mitschüler*innen, eine Lehrerin und einen Mitarbeiter der Schulmensa erschossen hat. Sie schreibt bis zum 8. April 2001, dem zweiten Jahrestag seiner Tat. Eva nutzt die Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge darzulegen und zu erklären, was für ein Horror es war, mit Kevin und Franklin zu leben. Dass sie jetzt auch noch auf Schmerzensgeld verklagt wird, kann sie nicht mehr schrecken.
Vom Tag seiner Geburt an hatte Eva große Schwierigkeiten mit Kevin, der von Natur aus böse zu sein schien und Babysitterin um Babysitterin vergraulte. Niemand konnte es mit ihrem Sohn lange aushalten, sie aber musste. Bis er sechs Jahre alt ist, weigert Kevin sich, auf die Toilette zu gehen und trägt Windeln. Er verweigert Nahrung oder isst nur ganz besondere Dinge, er liebt es, Menschen bloßzustellen und in Gefahr zu bringen. Eva traut ihrem Sohn nicht mehr über den Weg und sieht in allem, was er tut, Aggression und Provokation. Ganz anders sieht es mit Vater Franklin aus: er sieht in seinem Sohn einen harmlosen Jungen, dem völlig zu Unrecht immer wieder die gemeinsten Dinge unterstellt werden. Doch seine bedingungslose Liebe findet bei Kevin ebenso wenig Anklang wie Evas verzweifelter werdende Versuche, ihn zu bestrafen. Während beide Elternteile auf ihre Art darum kämpfen, dass Kevin ein normaler, netter Junge wird, wird ihre Ehe immer brüchiger, die Seiten immer verhärteter.
In the very instant of his birth, I associated Kevin with my own limitations – with not only suffering, but defeat.
Der Roman wird ausschließlich aus einer Perspektive erzählt. Das schränkt den Blick auf das Geschehen zwar ein, trägt aber auch entscheidend zur bedrückenden Atmosphäre des Romans bei. Kurz nach Kevins Geburt zieht die Familie in ein Haus, das Eva hasst. In diesem sitzt sie nun, beinahe wie eine Gefangene, und muss auf einen Sohn aufpassen, der alles tut, um ihr das Leben zur Hölle zu machen. Gerade zu Hause, dem Ort, der eigentlich Geborgenheit vermitteln sollte, muss Eva ständig auf der Hut sein und ahnt die ganze Zeit das schlimmste. In Teilen erinnert die Atmosphäre an einen Psycho-Thriller, bei dem man ahnt, dass der Mörder gleich hinter der Tür steht. Der Stil allerdings ist deutlich ausgefeilter, als er das bei den meisten Thrillern und auch mit sich selbst geht Eva schonungslos ins Gericht. Nach der ganzen Katastrophe hat sie nichts mehr zu verlieren und sie gibt sich keine Mühe, irgendwelche Niederlagen und Verletzungen noch zu kaschieren.
We Need to Talk About Kevin ist ein brutaler und schonungsloser Roman, der keine Sekunde nachlässt. Auch weil man das Ende ja schon kennt, kann man sich den ganzen Roman über keine Hoffnung machen, dass doch noch irgendwas gut wird. An einigen Stellen fand ich die Herangehensweise etwas einfach: Kevin ist böse geboren, also macht er böse Sachen und schießt am Ende auch auf Menschen. Das aber wird aufgefangen durch Evas gnadenlose Ehrlichkeit, die so überzeugend ist, dass man eigentlich nicht mehr glauben kann, dass es anders gewesen sein könnte. Lionel Shriver widmet sich einem Thema, das seit Jahren nicht an Aktualität verliert und findet einen spannenden Zugang dazu. Die Frage, wer denn jetzt Schuld an solchen Taten ist, kann sie aber natürlich auch nicht beantworten.
Lionel Shriver: We Need to Talk About Kevin. Serpent’s Tail 2005. 468 Seiten. Erstausgabe Perseus Books 2003. Eine deutsche Übersetzung von Christine Frick-Gerke und Gesine Strempel ist unter dem Titel Wir müssen über Kevin reden bei Piper lieferbar.
Das Zitat stammt von S. 90.
2005 wurde dieser Roman mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts „Women’s Prize for Fiction„.
Das hört sich wirklich sehr spannend und tragisch zugleich an. Danke fürs vorstellen, dieses Buches.
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