Von der Polizei wird Eva Gruber in die Psychiatrie gebracht, ins Otto Wagner Spital, gelegen am Rande von Wien. Sie behauptet, eine ganze Kindergartengruppe erschossen zu haben. Man ahnt schnell, dass das nicht der Wahrheit entspricht.
In der Klinik trifft sie nach Jahren endlich wieder auf ihren Bruder Bernhard, der dort wegen einer Essstörung behandelt wird. Dem Psychiater Dr. Korb erzählt sie, sie habe ihn ganz alleine großgezogen nach dem Tod der Mutter. Dass ihre Mutter irgendwann höchst lebendig und besorgt in der Klinik auftaucht, ist für Eva kein Grund zur Korrektur ihrer Geschichte. Eva Gruber ist eine in höchstem Maß unzuverlässige Erzählerin. Sie lügt permanent und mit Begeisterung und das schon seit ihrer Kindheit. Auf die Therapie will sie sich nicht einlassen. Man weiß ja auch nicht, ob sie wirklich eine nötig hat. Ihrer Ansicht nach sicher nicht, sie findet, sie sei die einzig normale im ganzen Spital und nur da, um ihren Bruder zu retten. Ungeachtet der selbstdiagnostizierten geistigen Gesundheit wacht sie nachts in ihrem eigenen Blut auf, weil sie sich im Schlaf selbst verletzt.
„Es ist mir ernst mit der Psyche, das sollen die Leute nur merken. Sie sollen merken, dass ich mich bemühe. Die Pfleger und Ärztinnen wiederholen zwar immer wieder, dass alle gleich sind, aber einen Scheißdreck sind alle.“
Eva Gruber hat zu Beginn des Romans eine enorme Abwehrhaltung und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich habe eine Weile gebraucht, um mit diesem Roman warm zu werden. Zu Beginn erschien mir die Figur und er ganze Stil von Vater unser doch sehr bemüht in seiner allumfassenden Anti-Haltung. Erst langsam kommt man hinter diese sehr harte Schale und findet heraus, dass viel mehr dahinter steckt und auch, dass Evas Rotzigkeit zu Beginn durchaus ihren Sinn hat. Besonders Evas Verhältnis zu ihrem Bruder ist fast rührend. Sie kämpft verbissen darum, einen erneuten Zugang zu Bernhard zu finden und ist sich sicher, dass nur sie den Weg zu seiner Rettung kennt. Umso wütender macht sie Intervention der Mutter und der Ärzte, die glauben, es besser zu wissen. Nur mit Dr. Korb hat sie ein entspanntes, fast enges Verhältnis. Er scheint sich sogar von ihr angezogen zu fühlen. Aber auch hier gilt: man kennt nur Evas Sicht der Dinge und kann sich niemals sicher sein, was man glauben kann.
Vater unser ist ein forderndes, gnadenloses und brutales Buch mit einem ganz eigenen Stil. Nach den erwähnten Anlaufschwierigkeiten war und bin ich sehr davon beeindruckt.
Angela Lehner: Vater unser. Hanser 2019. Gelesen als eBook mit 279 Seiten. Lieferbar auch als Hardcover.
Das Zitat stammt von S. 54/279.
Dieser Roman war auf der Shortlist von „Das Debüt“ 2019.
Immer noch, auch nach einigem Abstand zur Lektüre enttäuscht davon.
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Bei mir tut der Abstand dem Buch nicht gut. Ich merke, dass nicht so viel hängen geblieben ist, wie ich gedacht hätte. Beim Lesen und kurz danach war ich sehr überzeugt, aber gerade deshalb hätte ich einen bleibenderen Eindruck erwartet.
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Das ist höchst interessant. Ich habe bei mir mitunter das Gefühl, dass die „lauten“ Bücher weniger lang Bestand haben. Und die stilleren im Verborgenen noch nachwirken.
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Ja, da könnte was dran sein. Von „Die hellen Tage“ zum Beispiel erinnere ich noch ganz viele Episoden, auch wenn ich den gesamten Inhalt nur noch vage wiedergeben könnte.
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War ein tolles Buch, das in diesem Herbst auch sehr gewürdigt wurde und auch viele Preise bekommen hat https://literaturgefluester.wordpress.com/2019/10/03/vater-unser/
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