Die Frage nach dem woher und wohin – „Herkunft“ von Saša Stanišić

In den letzten Wochen wurde so viel über Stanišićs (mit Schmuck an den Buchstaben) Herkunft gesprochen, dass man sich ernsthaft fragen muss, ob man auch noch was dazu sagen muss. Ich hätte es, um ehrlich zu sein, nicht getan, hätte es mein Buchclub nicht gewählt. Dann hätte ich allerdings den großartigen Abenteuerroman im hinteren Teil des Buches verpasst und allein das wäre eine Schande gewesen. Stanišićs Autorenruhm ist mit dem Deutschen Buchpreis ja nun ohnehin besiegelt, er ist aber auch ein fantastischer Autor von Mitmach-Abenteuerromanen, das war mir noch nicht bekannt. Zumindest das letzte Viertel sollte man also auf jeden Fall lesen.

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Aber auch sonst ist Herkunft ein lesenswertes Buch. Stanišić, der 1978 in Višegrad geboren wurde, beschreibt seine Kindheit in Jugoslawien, den Zerfall des Landes und die Flucht vor dem Krieg nach Heidelberg. Dort kam er 1992 mit seiner Mutter an und musste erfahren, dass nichts mehr selbstverständlich und sicher war. Die Eltern, die in ihrer Heimat ein gutes Auskommen hatten, schufteten in mies bezahlten Knochenjobs und über allem schwebte immer drohend die Abschiebung. Tatsächlich durften Stanišićs Eltern am Ende nicht in Deutschland bleiben, während ihr Sohn studieren und Autor werden konnte.

„1998 mussten meine Eltern das Land verlassen. Heidelberg ist bis heute eine ihrer Lieblingsstädte in der Vorstellung dessen, was für sie hätte sein können, wenn ihnen ein normales Leben möglich gewesen wäre. Die Welt ist voller Jugoslawen-Fragmente wie sie oder ich es sind.“

Herkunft handelt vom Aufwachsen in Heidelberg, vom Abhängen an der Tankstelle, von Vorurteilen, Ausgrenzung und Zusammenhalt. Es handelt aber auch von der Verbundenheit mit der Heimat der Kindheit, mit dem heutigen Bosnien, wo immer noch große Teile der Familie Stanišić leben. Die Großmutter des Autors lebte bis vor wenigen Jahren noch in Višegrad. Ihr Enkel berichtet von Besuchen, von Erinnerungen an die eigene Kindheit und von der stetig fortschreitenden Demenz der alten Frau. Gemeinsam besuchen sie Oskoruša, ein Ort mitten in den Bergen, der für die Familie mal von großer Bedeutung waren, in der heute aber vor allem ihre Gräber sind.

Aus diesen beiden Strängen ist das Buch zusammengesetzt – Roman kann man es nicht nennen, Biographie vielleicht. Ganz am Ende gibt es eine Liste, an welchen Stellen manche der Texte so oder so ähnlich schon mal erschienen sind. Diese unterschiedlichen Quellen und auch die unterschiedlichen Zeiten, in denen die Texte entstanden sind, erklären, warum es manchmal Schwankungen zwischen den Passagen gibt, auch was ihre Qualität angeht. Schlecht ist nichts davon, manche Teile ziehen aber eben deutlich mehr als andere. Vor allem die Heidelberger Jugendzeit ist, das merkt man, eine Episode von der es viel zu erzählen gibt, und von der Stanišić gern und gut erzählt. Diese Zeit ist voll von großen Ereignissen und neuen Erfahrungen. Die Reisen zur kranken Großmutter hingegen leben von der emotionalen Bindung. Stanišić schildert ein ruhigeres, in sich gekehrteres Abtasten des Landstriches, der elementarer Teil seiner Herkunft, aber nicht mehr seine Heimat ist.

Herkunft beschreibt, was eine Identität ausmachen kann, wie viele Faktoren relevant sind, wenn es um die Frage geht, woher man kommt. Über Herkunft kann und muss man viele Geschichten erzählen. Nur über Geschichten kann man, so die feste Überzeugung des Autors, die Welt begreifbar machen. Das ist Stanišićs Spezialgebiet, schon von Kindesbeinen an. Auch dieses mal gelingt es ihm.


Saša Stanišić: Herkunft. Luchterhand 2019. 360 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 217.

 

Ein Gedanke zu “Die Frage nach dem woher und wohin – „Herkunft“ von Saša Stanišić

  1. elizzy91 1. Dezember 2019 / 8:46

    Hallo! Danke fürs vorstellen, ich habe das Buch schon oft gesehen und immer wieder überlegt, ob ich es mir kaufen soll. Ich finde du hast das Buch wundervoll zusammengefasst und ich werde es mir beim nächsten Buchhandelbesuch holen 😬

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