Deutschlands koloniale Vergangenheit spielt heute für viele kaum noch eine Rolle. Kolonialismus verbindet man mit Indien und England, vielleicht noch den Franzosen und schickem Kolonial-Stil. Wie wenig stilvoll deutscher Kolonialismus war, legt Bartholomäus Grill in seinem Buch Wir Herrenmenschen dar. Sechs koloniale „Schutzgebiete“ konnte der Kaiser einst sein Eigen nennen, mit dem Frieden von Versaille war damit Schluss. Die größten und wichtigsten Gebiete lagen auf dem afrikanischen Kontinent: Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika, dessen Unabhängigkeit nicht zuletzt Heino schlecht verkraftet hat. Das chinesische Kiautschou und Kaiser-Wilhelmsland im heutigen Papua-Neuguinea konnten mit diesen exportstarken Schwergewichten nie mithalten. Zum Glück für die dortige Bevölkerung.
In den afrikanischen Kolonien setzten die neuen Herren den unterworfenen Einwohner*innen grausam zu. Ihrem Image in der deutschen Heimat schadete das kaum. Bis heute werden die kolonialen Spuren in Deutschland von vielen kaum hinterfragt. In Bremen beispielsweise, sowieso als Hansestadt eine ehemals große Kolonial-Freundin, erinnern bis heute viele Straßennamen an Menschen, die Karriere machten, indem sie rücksichtslose Geschäfte betrieben und Leute umbrachten. Carl Peters, stationiert in Deutsch-Ostafrika, und dort ob seines harten Durchgreifens als Hänge-Peters bekannt, hat noch immer seine Straße im Stadtteil Walle. Sie schreibt sich jetzt Karl Peters und ist, nachdem eine Umbenennung scheiterte, in einem Akt der Verzweiflung nun einem gleichnamigen Strafrechtsreformer gewidmet, den keine Sau kennt. Nachtigal, Vogelsang und natürlich Lüderitz bleiben sowieso unbehelligt. Und wer am Bremer Hauptbahnhof mal 15 Minuten Umsteigezeit hat, kann in die Bahnhofsvorhalle gehen. Dort gibt es einen Rossmann mit sehenswertem Publikum und ein riesiges Wandbild, das darstellt, wie super einfach es ist, Kunstschätze und anderes aus den Kolonien zu exportieren. Wer noch mehr Umsteigezeit hat, kann den Bahnhof verlassen und ist drei Minuten später im Überseemuseum, das besagte Kunstschätze gesammelt hat, sich mittlerweile aber immerhin um Provinienzforschung kümmert und auch das ein oder andere definitiv geraubte Objekt bereits zurückgegeben hat.
„Wir sehen die außereuropäische Welt nach wie vor mit dem imperialen Auge und behandeln ihre Bewohner nicht viel besser als in der Kolonialzeit. Auch darum geht es in diesem Buch: Es ist der Versuch, unser rassistisches Erbe zu ergründen.“
Von all dem, der kolonialen Geschichte und ihren schwerwiegenden Folgen, schreibt Grill in seinem Buch. Im Umgang der nördlichen mit der südlichen Hemisphäre entdeckt er an vielen Stellen noch immer einen bemitleidenden, fürsorglichen Blick auf die Entwicklungsländer, die ohne die Hilfe der Industrienationen nicht sein können. Dass sie ohne die Industrienationen ganz anders sein könnten, wird dabei geflissentlich übersehen. Grill ist der festen Überzeugung dass es, solange es imperialistischen Blick auf diese Länder gibt, keine Partnerschaft auf Augenhöhe wird geben können. Mehrere Jahrzehnte lang hat er als Afrika-Korrespondent der Zeit in verschiedenen Ländern des Kontinents gelebt und sich ein fundiertes Wissen über die politischen wie kulturellen Zusammenhänge angeeignet. Man merkt das fachlich, man merkt es aber auch stilistisch. Grill schreibt eben auch wie für die Zeit und hält dabei auch nicht mit seinen Meinungen hinter dem Berg. An der einen oder anderen Stelle wirkt das bevormundet der Leserschaft gegenüber. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Wir Herrenmenschen eine solide und kompakte Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte ist. An einigen Stellen wiederholt er sich, manchmal wirkt es, als habe er ein paar Texte aus der Schublade gekramt, die von der Zeit damals nicht gekauft wurden. Das würde die gelegentliche Redundanz erklären.
Im Vergleich zu seinen Schilderungen der afrikanischen Kolonien sind die Ausführungen zu Kaiser-Wilhelmsland und Kiautschou recht knapp. Man merkt, dass er diese beiden Gebiete zwar bereist hat dort aber weit weniger Zeit verbracht hat und die örtlichen Kulturen entsprechend auch oberflächlicher kennengelernt hat.
Über die Ursprünge des Rassismus äußert Grill sich ebenfalls recht knapp. Zwar schreibt er über die geltende Rassenlehre ebenso wie über grausame Experimente, die im Namen der Wissenschaft an kolonialen Subjekten durchgeführt wurden, an die Wurzel aber dringt er damit nicht. Im Kern aber zumindest wird klar, welch abstruse „Wissenschaft“ konstruiert wurde, um die koloniale Unterdrückung zu rechtfertigen und wie fest sie bis heute in den Köpfen sitzt. Die Literatur, Bilder und Kunst der damaligen Zeit formen bis heute unser Bild eines gesamten Kontinents, der noch dazu als reichlich uniform wahrgenommen wird. Wer mehr zu dem Thema wissen möchte, sei ein weiteres mal an Friederike Habermanns Der unsichtbare Tropenhelm verwiesen.
Wir Herrenmenschen ist ein gelungener, prägnanter und an einigen Stellen auch aufrüttelnder Einstieg in die deutsche Kolonialgeschichte. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass dieses Kapitel im Geschichtsunterricht nur dürftig behandelt und auch sonst selten aufgearbeitet wird, dürfte dieses Buch für viele Leser*innen noch viel Neues bieten.
Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler 2019.
Das Zitat stammt von S. 19.
Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar, das mir zur Verfügung gestellt wurde.
Ich hab das Buch nicht angefragt, sonst hätte ich mich wieder aufgeregt und mich wundgeschrieben… schön, dass du es besprochen hast.
LikeLike
Meine erste Fassung war auch deutlich länger. Als ich nach Absatz drei gemerkt habe, dass ich noch nicht beim Buch bin, hab ich neu angefangen.
LikeGefällt 1 Person
Mach ich auch manchmal. Meine Dylan-Kolumne hatte am Ende Hauptseminar-Hausarbeitsformat mit detaillierter Textanalyse… am Ende hab ich 8000 Zeichen draus gemacht…
LikeGefällt 1 Person
Vielleicht noch eine Ergänzung zu diesem Buch und dem von F. Habermann ist „In Afrika“ von Alex Perry, wo auch nochmal die Willkür kolonialer Herrschaft im größerem Rahmen deutlich wird, und die Probleme, die heutiges Engagement dort mit sich bringt (z.B. Lebensmittellieferungen, die v.a. der Konjunktur des „helfenden“ Staates dienen).
Oh und eine Innensicht: „Dekolonialisierung des Denkens“, von Ngugi wa Thiong’o (kenianischer Schriftsteller, der Band enthält Essays aus dem Jahr 1986, sowie als Kommentare dazu Essays weiterer afrikanischer Autor*innen aus heutiger Sicht.
Schönes Blog, teilweise schön lakonischer Schreibstil.
LikeLike
Vielen Dank für deinen Beitrag und die Ergänzungen.
Perrys Buch kenne ich noch nicht, es klingt aber sehr interessant und kommt mal auf die lange, lange Leseliste.
Ngũgĩ wa Thiong’o wird im ganzen Buch übrigens nicht erwähnt, was mich gewundert hat. Achebe kommt mehrfach vor, Mandela natürlich auch und ich glaube, mich an Soyinka zu erinnern, aber auf Thiong’o habe ich die ganze Zeit vergebens gewartet.
Überhaupt war auch nicht viel postkoloniale Theorie in dem Buch zu finden, was aber wohl auch einfach nicht Ziel und Anspruch war.
LikeGefällt 1 Person
Nur zur Ergänzung: Auch in Berlin-Wedding gibt es ein „Afrikanisches Viertel“, mit Petersallee und Nachtigalplatz und Lüderitzstraße. Durch eine Bürgerinitiative wurden die Straßen jetzt von der Bezirksverordnetenversammlung umbenannt und haben Namen von afrikanischen Persönlichkeiten und Widerstandskämpfern bekommen. Dagegen haben widerum Bürger Einspruch eingelegt, weshalb die Umbenennung noch nicht vollzogen wurde. Das Drama geht jetzt schon ein paar Jahre.
LikeGefällt 1 Person
Ähnlich war es hier, zumindest mit der Karl-Peters-Str. Ob über die anderen jemals diskutiert wurde, weiß ich gar nicht. Für die Anwohner*innen und ansässige Firmen ist es natürlich auch ein erheblicher Aufwand, das sehe ich ja ein. Trotzdem fände ich es schöner, wenn diese Leute nicht in Form von Straßennahmen geehrt würden. Aber egal in welchem Kontext ist eine Straßenumbenennung ja mal nicht „eben so“ gemacht.
LikeGefällt 1 Person