Cath und Rob wachsen um die Jahrhundertwende bei ihrem Großvater auf einem Landsitz im englischen Nirgendwo auf. Die Mutter hat sich abgesetzt und lebt gerüchteweise irgendwo in Frankreich, der Vater wurde kurz nach ihrem Verschwinden in ein Sanatorium eingewiesen. Als Ersatz gilt den beiden Haushälterin und Kindermädchen Kate, die zusammen mit dem übrigen Personal das beste gibt, den Laden irgendwie am Laufen zu halten. Denn trotz großzügiger Ländereien kreist der Pleitegeier über dem Landsitz, darüber können auch die rauschenden Bälle nicht hinwegtäuschen. Rettung verspricht der Nachbar George Bullivant, der aus einem Austen-Roman sein könnte, nicht nur einen ausgesuchten Kunstgeschmack sondern auch Ländereien in Italien hat und glücklicherweise auch Interesse an Cath. Die aber ist viel zu sehr in ihrer eigenen Welt verhaftet und hat zudem noch eine inzestuöse Beziehung zu ihrem Bruder, die ihr immer selbstverständlicher vorkommt, von der sie aber auch weiß, dass niemals jemand davon erfahren darf.
Mit A Spell of Winter hat Dunmore einen düsteren und beklemmenden Roman geschrieben. Es fühlt sich an, als wäre immer Winter in diesem Roman. Irgendwann ernten Leute Äpfel und es kommen Zitronen aus Italien, also muss irgendwann auch mal Sommer gewesen sein, aber es fühlt sich nicht so an. Das Buch beginnt mit der Geschichte einer Frau, die ihren verstorbenen Sohn nicht gehen lassen wollte und der schließlich so lange in seinem Bett lag, bis beim Abtransport der Leiche ein Arm abbrach und die Treppe hinunterfiel. Und so fröhlich ist der ganze Grundton des Romans. Erzählt wird der Roman rückblickend von Cath, die mittlerweile erwachsen ist und von Rob nur noch in der Vergangenheit spricht. Das Haus, von dem sie erzählt, scheint bis auf sie völlig leer zu sein, was kein gutes Zeichen ist. Es ist nicht schwer, darin das Haus zu erkennen, das in ihren Jugenderzählungen vom Lärm eines riesigen Festes erfüllt ist. Doch wie viele Feste man im Familienanwesen auch veranstaltet, es bleibt ein Wuthering Heights-artiges Gemäuer, das sich einfach nicht mit Wärme und Glück füllen lässt.
„Everything was ready. Our life was put away so it would not spoil the party.“
Die Geschwister wachsen auf in einer abgeschiedenen Welt in der es kaum Kontakt nach außen gibt. Beinahe den kompletten Roman über erlebt man Cath nur zu Hause oder beim Nachbarn Mr. Bullivant, abgesehen von einem kurzen und sehr unschönen Besuch beim Vater im Sanatorium. Dunmore baut eine beeindruckende und immer dichter und bedrohlicher werdende Atmosphäre auf. Die intime Beziehung der Geschwister ist verstörend, passt aber auch so sehr in dieses Bild, dass sie fast logisch erscheint. Was das ganze eigentlich noch verstörender macht. Dunmores Stil ist dabei sehr elegant und präzise. Es gelingt ihr, die Besonderheiten von Personen und Situationen treffend und lebendig einzufangen und trotz begrenzten Personals eine interessante Geschichte zu konstruieren.
A Spell of Winter ist ein packender Roman, der aber so düster ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich ihn an kalten, kurzen Wintertagen lesen wollte. Lesen aber würde ich ihn an eurer Stelle schon. In vier Wochen werden die Tage ja auch schon wieder länger.
Helen Dumore: A Spell of Winter. Penguin 2009. 313 Seiten. Erstausgabe Viking 1991. Eine deutsche Übersetzung von Lore Pilgram ist unter dem Titel Der Duft des Schnees erschienen, ist derzeit aber nur antiquarisch erhältlich.
Das Zitat stammt von S. 44.
1996 gewann Dunmore mit diesem Roman den ersten Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.