Grace wird 1946 als drittes Kind der Londoner Familie Williams geboren. Schnell wird ihrer Mutter klar, dass ihre jüngste Tochter sich anders und langsamer entwickelt als ihre älteren Geschwister. Sie wächst sehr langsam, lernt spät und nur mit Mühe laufen und kommt nie über Zwei-Wort-Sätze hinaus, die sie in die Welt schreit, trotz aller Therapiebemühungen kaum in der Lage, ihre Zunge zu beherrschen. In winzigen Schritten geht es voran, doch als Grace sechs Jahre alt ist erkrankt sie an Kinderlähmung. Nur knapp überlebt sie in einer Eisernen Lunge, einer ihrer Arme aber und ein Bein werden stark in Mitleidenschaft gezogen. Nelson nennt sie den jetzt beinahe nutzlosen Arm und hinkt fortan noch schiefer durchs Leben.
Aussichtslos, sagt er Arzt. Grace werde niemals in der Lage sein, eine Schule zu besuchen oder ein eigenständiges Leben zu führen. Er empfiehlt, sie in eine spezielle Einrichtung zu schicken und so landet Grace im Alter von zehn Jahren in „The Briar“. Dem Zeitgeist entsprechend dient diese Einrichtung fast ausschließlich der Verwahrung von Menschen mit diversen Behinderungen. Sinnvolle Therapie- oder Beschäftigungsangebote gibt es kaum für die dort lebenden, dafür sind die Schikanen und Strafen des Personals umso ausgefeilter und brutaler. Ohne genau zu wissen warum, verbringt Grace Tage in dunklen „Strafräumen“, hungert und wird gezwungen, erniedrigende Arbeiten zu verrichten. Ihre einzige Stütze ist ihr Freund Daniel, Sohn eines halbseidenen aber angebeteten Antiquitätenhändlers, ein Epileptiker, der bei einem Unfall beide Arme verloren hat. Er zeigt Grace in den ersten Tagen alles nötige und wird später ihre erste und einzige große Liebe.
„Apart from her physical handicap, which makes it extremely difficult for her to attempt anything educationally, there is a complete lack of mental alertness.“
Von ihrer Umwelt mehr als Objekt denn als Subjekt behandelt und verwaltet entwickelt Grace doch einen starken Charakter. Der Roman wird aus ihrer Perspektive erzählt, die zeigt, dass sie die Welt sehr genau beobachtet und deutlich mehr mitbekommt, als ihr Umfeld ihr zutraut. Das meiste aber was ihr widerfährt, nimmt sie einfach so hin. Die Brutalitäten, mit denen das Pflegepersonal ihr in The Briar begegnet, dokumentiert sie schnörkellos und ohne jeden Kommentar. Scheinbar ungerührt erfährt sie Schläge, psychische Gewalt und Missbrauch als unvermeidlichen und normalen Teil ihres Lebens. Es ist eben wie die Leute mit ihr umgehen. Außer natürlich Daniel, der sie wunderschön findet und ihr mit seinen fast unglaublichen Geschichten aus seinem alten Leben zur Flucht aus dem tristen Alltag verhilft. Aber es wird kein glückliches Ende nehmen mit den beiden, die Hoffnung nimmt einem die Autorin gleich auf der ersten Seite.
Grace wird das erste mal 1957 in einer Institution untergebracht und bleibt den Rest ihres Lebens in Betreuungsverhältnissen. Ihre Geschichte ist also auch die Geschichte vom Umgang mit Menschen, die mit Behinderungen oder schweren, einschränkenden Erkrankungen leben. Und das liest sich selten schön, vor allem wenn man bedenkt, wie viel Realität hinter dieser fiktiven Institution steckt. Doch für Grace bleibt The Briar trotz aller Schrecklichkeiten immer mit positiven Erinnerungen verknüpft, es ist ihre Heimat und der Ort, an dem sie Freundschaften geknüpft und prägende Erfahrungen gemacht hat. Den Roman von Grace selbst erzählen zu lassen, gibt der als Objekt behandelten Frau eine Stimme und die Chance, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Im Großen und Ganzen funktioniert das sehr gut, an manchen Stellen aber schwankt das Ausmaß, in dem Grace ihr Umfeld erfassen und verstehen kann und ist nicht vollständig glaubwürdig. Das aber passiert so selten, dass es kaum als störender Faktor gelten kann und wird außerdem ausgeglichen durch den kraft- und schwungvollen Ton der Erzählung. So wenig Grace sich nach außen hin artikulieren kann, so differenziert ist ihre Erzählstimme und der Roman gerät zu einem ungewöhnlichen Portrait, das wenig ausspart und nichts verkitscht.
Emma Henderson: Grace Williams Says it Loud. Sceptre 2011. 325 Seiten, ca. € 7,-. Erstausgabe Sceptre 2010. Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht.
Das Zitat stammt von S. 277
Mit diesem Roman war Emma Henderson 2011 für den Orange Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.