Margaret Atwood: The Blind Assassin

Laura Chase war eine begnadete Autorin. Leider konnte ihr erster und einziger Roman The Blind Assassin erst posthum veröffentlicht werden. Bei einem tragischen Unfall verstarb sie mit gerade Anfang 20, aus dem Nachlass hat ihre Schwester Iris Chase Griffen den Roman veröffentlicht. Seitdem ist es an ihr, das schriftstellerische Erbe ihrer Schwester zu wahren und zu verwalten. Iris ist mittlerweile weit jenseits der 80, lebt wieder in ihrer Heimatstadt Port Ticonderoga und hat begonnen, ihre Memoiren zu verfassen. An einen Unfall hat sie keine Minute lang geglaubt, sie war sich immer sicher, dass Laura Selbstmord begangen hat. Nun schreibt sie über ihr Leben und das ihrer Schwester und versucht herauszufinden, an welchem Punkt alles entgleist ist.

„But in life, a tragedy is not one long scream. It includes everything that led up to it. Hour after trivial hour, day after day, year after year, and then the sudden moment: the knife stab, the shell-burst, the plummet of the car from the bridge.“

Die Familie Chase war über Generationen die Spitze der Gesellschaft im kanadischen Port Ticonderoga. Nach dem frühen Tod der Mutter wachsen die Chase-Schwestern beim Vater auf, unterstützt von der Haushälterin Reenie und einer wechselnden Reihe Hauslehrer. Doch während der Weltwirtschaftskrise in den 1920ern geht es auch mit den Chase-Fabriken bergab. Die einzige Rettung für Töchter und Vermögen sieht Iris Vater in einer Ehe zwischen Iris und seinem Geschäftspartner Richard Griffen. Wie schlimm soll es schon werden, fragt sich Iris und fragt sie Reenie. Viel, viel schlimmer, ist die Antwort. In Iris Retrospektive entspinnt sich langsam die Geschichte einer leidlich glücklichen Kindheit, gefolgt von einer Ehe, die von psychischer wie physischer Gewalt geprägt ist. Unterbrochen werden Iris Memoiren von einem weiteren Erzählstrang, in dem ein Mann einer Frau eine Geschichte erzählt. Eine ziemlich absurde SciFi-Geschichte, die später einmal ein Roman werden soll, die Geschichte eines blinden Mörders.

Atwood_TheBlindAssassin

Atwood versteht es, die Spannung kontinuierlich aufzubauen. Iris schafft es erst nach und nach, sich in ihren Memoiren zu öffnen und so steht am Anfang das Bild zweier glücklicher Mädchen, die alles haben und denen ein wunderbares Leben bevorsteht. Doch langsam bröckelt dieses Bild, es werden Katastrophen angedeutet, die sich später bewahrheiten und in ihrer Gesamtheit eine einzige große Tragödie ergeben. Nebenbei zeichnet Atwood dabei auch das Panorama fast eines gesamten Jahrhunderts, angefangen beim Ersten Weltkrieg bis in die 90er-Jahre. In ihrer Schilderung der High Society fokussiert sie die Grausamkeiten, die starren Regeln und die Opfer, die denen abverlangt werden, die sich nicht einfach beugen können oder wollen. Denen, die in einer Gesellschaft, in der es nur um persönliche Bereicherung und eigenes Vorankommen geht, an ihren Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit festhalten. Einige Personen setzen dafür eine Menge aufs Spiel.

Die Geschichte des blinden Mörders, immerhin relevant genug, um dem Roman seinen Namen zu geben, ist für die Handlung eigentlich überhaupt nicht wichtig. Aber sie ist wichtig für das Verhältnis des Mannes, der sie erzählt und der Frau, die sie hört. Sie teilen sich diese Geschichte, es ist ihr ganz eigenes Refugium, ihre Form von Eskapismus. Ihr Verhältnis in der realen Welt ist höchst unsicher und kann jederzeit zu Ende sein, doch die Orte und Figuren der Geschichte sind unauslöschbar und immer verfügbar. Damit bringt Atwood eine der wichtigsten Funktionen von Fiktion in den Roman und auf den Punkt.

The Blind Assassin ist ein außergewöhnlicher, smart konstruierter, tragischer und dabei unterhaltsamer Roman einer fantastischen Autorin, die einen sehr eigenen, pointierten und eingängigen Schreibstil hat. Das sehr langsame Entfalten der Lebensgeschichte der Chase-Schwestern belastet manchmal ein wenig die Nerven, weil man weiß, dass am Ende eine große Katastrophe kommen muss, aber eben noch nicht wie. Aber da muss man durch. Am Ende kann, so die Romanfigur Alex Thomas, sowieso nie ein Happy End stehen, weil irgendwann alle tot sind.


Margaret Atwood: The Blind Assassin. Virago 2009. 640 Seiten, ca € 9,-. Erstausgabe McClelland and Stewart 2000. Letzte deutsche Ausgabe: Der blinde Mörder. Übersetzt von Brigitte Walitzek. Piper 2017. 704 Seiten, € 15,-.

Das Zitat stammt von S. 510

Margaret Atwood stand mit diesem Roman 2001 auf der Shortlist für den Orange Broadband Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Women’s Prize for Fiction„. Außerdem hat sie 2000 den Man Booker Prize für dieses Buch bekommen. In wenigen Tagen erhält Atwood zudem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

5 Gedanken zu “Margaret Atwood: The Blind Assassin

  1. Bri 3. Oktober 2017 / 13:18

    Den blinden Mörder habe ich vor Jahren gelesen und trotzdem kann ich mich noch gut erinnern. Das macht ein wirklich gutes Buch aus – smart konstruiert trifft es super. LG, Bri

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  2. letteratura 3. Oktober 2017 / 13:24

    Ich habe das Buch kurz nach Erscheinen gelesen und in guter Erinnerung, obwohl ich mich an die Handlung kaum erinnere. Auch ein Kandidat zum Wiederlesen, danke für die Besprechung!

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  3. jongleurin 26. Dezember 2017 / 13:29

    Das Buch habe ich mir wegen diesem Blogeintrag zu Weihnachten gewünscht und bekommen. Sobald Swing Time durch ist, fang ich an und freu mich schon drauf!

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    • Marion 26. Dezember 2017 / 13:56

      Wie cool! Das freut mich ja. Ich wünsche viel Vergnügen!

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