Jack Urwins Karriere als Experte für „toxische Männlichkeit“ begann mit dem sehr persönlichen Artikel A Stiff Upper Lip Is Killing British Men, der 2014 im Vice-Magazine erschien. In diesem Artikel (und auch in seinem Buch) berichtet er von seinem Vater, der sehr jung an einem Herzinfarkt starb. Nach seinem Tod wurde festgestellt, dass er schon mindestens einen Infarkt gehabt haben musste und auch, dass er ein rezeptfreies Medikament gegen Herzbeschwerden gekauft hatte, seine Probleme ihm also durchaus bewusst waren. Urwin glaubt, dass sein Vater bedeutend älter hätte werden können, wenn er die berühmte „Stiff Upper Lip“ hätte ablegen können und sich mit seinen Sorgen und Beschwerden jemandem anvertraut hätte. Sein Vater, glaubt Urwin, sei dazu aber nicht in der Lage gewesen, weil ihm von Kindesbeinen an eingetrichtert wurde, dass Männer keine Schmerzen und keine Schwäche kennen oder doch zumindest nicht zeigen. Dieses Bild von Männlichkeit ist ein sehr schädliches – für Urwin sen. aus sehr offensichtlichen Gründen, aber auch für seine Frau, seine Kinder und viele andere Menschen, die ihn gerne noch ein paar Jahre länger um sich gehabt hätten.
Nicht nur zu spät oder gar nicht aufgesuchte Ärzte sind ein Problem. In Großbritannien nehmen Männer sich drei mal häufiger das Leben als Frauen. Und das, obwohl es deutlich mehr Frauen mit diagnostizierten psychischen Erkrankungen gibt. Der Verdacht liegt also nahe, dass Männer überhaupt nicht stabiler sind, sondern einfach nur weniger über ihre Instabilität sprechen. Denn Männer lösen ihre Probleme alleine, sind stark genug, ihre Gefühle zu verbergen und weinen auf gar keinen Fall. Dieser (nicht immer) stillschweigend vorausgesetzte Ehrenkodex ist das, was Urwin als „toxische Männlichkeit“ definiert. Ein Ideal von Männlichkeit, das für die Männer selbst, aber auch für ihre Umwelt extrem schädlich ist, tradiert von einer Väter-Generation, die ihre Emotionen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zurückgelassen hatten.
„Dieses Buch soll kein Angriff auf die Männlichkeit an sich sein, sonder auf die verdrehten Werte, mit denen Männlichkeit inzwischen gleichgesetzt wird.“
Bloß keine Pussy sein, bloß keine Schwäche zeigen, bloß nicht schwul wirken, und wenn es nur eine rosa Krawatte ist oder ‚weibliche‘ Interessen. Wo ein kleiner Schwanz, zu kleine Eier und mangelnde sexuelle Erfahrung mit fehlender Männlichkeit gleichgesetzt werden, ist der Wunsch, den Gegenbeweis anzutreten, schnell geweckt. Und so sieht Urwin auch die Wurzeln der Rape Culture und auch von häuslicher Gewalt in einem hochproblematischen Bild von Männlichkeit. Eine Vergewaltigung ist damit natürlich auf überhaupt keinen Fall entschuldbar, aber in einer aufgeheizten ‚Lad‘-Kultur finden es Männer schneller selbstverständlich, dass sie das Anrecht auf eine Frau bzw. auf Sex haben. Erst recht, wenn Sex einer der wichtigsten Marker von Männlichkeit ist.
Diese manchmal fast wahnhafte Idee von Männlichkeit hinter sich zu lassen, erweist sich, zumindest für den Einzelnen, als kompliziert. Wenn Frauen es geschafft haben, in so vielen männlich dominierten Bereichen Fuß zu fassen, fragt sich Urwin, warum haben Männer so viel Angst vor den weiblich dominierten? Warum hält die Gesellschaft so massiv an den tradierten Männlichkeitsidealen fest, wenn sie doch irgendwie scheiße für alle sind? Warum ist die panische Angst vor der ‚Entmannung‘ so tief und fest verwurzelt? Können Männer nicht einfach mal die Klappe aufmachen und sagen, was Sache ist? Können Väter ihren Söhnen nicht beibringen, dass Schwäche und Tränen völlig okay sind?
Urwin bietet keine fertigen Lösungen, das kann und will er auch nicht, aber er liefert ein paar sehr interessante Denkanstöße. Denn, frei nach Solnit, sind wir am Ende gemeinsam frei oder gemeinsam unfrei und bescheuerte Männerbilder sind nicht einen Deut besser als bescheuerte Frauenbilder. Tatsächlich gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Männer halt von Natur aus weniger fühlen. Große Jungs weinen nur eben nicht, die armen Schweine. Sollten sie mal, hilft oft.
Das einzige, was ich diesem Buch ankreiden kann, sind gelegentliche Sprünge in der Argumentationen (die am Ende aber doch immer schlüssig ist) und die etwas sperrige Übersetzung, der man das englische Original schon recht häufig anmerkt. Bei Sachbüchern finde ich das aber nur halb so wild.
Jack Urwin: Boys Don’t Cry. Aus dem Englischen von Elvira Willems. Edition Nautilus 2017. 232 Seiten, € 16,90. Originalausgabe: Man Up. Surviving Modern Masculinity. Icon Books 2016.
Das Zitat stammt von S. 69.
Ich hab das Buch auch vor ein paar Wochen gelesen. Das Thema finde ich sowieso spannend, das Buchdesign ist das Gleiche wie bei Laurie Penny. Schon hab ich’s gekauft.
Ich war dann aber recht schnell enttäuscht. Ich hab nicht erwartet, dass das ganze Buch im Stil und Ton eines Vice-Artikels geschrieben ist. Die teilweise reißerischen Formulierungen und die stream of consciousness-mässigen Einschübe fand ich anstrengend und gekünstelt. Das mag vielleicht auch an der Übersetzung liegen, vielleicht mag ich auch einfach den Stil nicht.
Für mich heißt das Weiterwarten auf ein männliches Pendant zu Laurie Penny (Vorschläge willkommen!). Bei ihr halten sich ein locker-unverkrampfter Erzählstil und fundierte Sachlichkeit mit großartigem Inhalt die Waage. Bei Jack Urwin war das für mich leider nicht so.
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Hallo Thomas,
vielen Dank für deine Meinung! Ich fand das Buch wichtig und relevant und in weiten Teilen auch smart, fand es aber auch über längere Strecken sehr Vice.
Ich finde, Urwin hat sehr gute und interessante Ansätze. Vieles braucht aber sicher auch eine differenziertere und vielleicht wissenschaftlichere Auseinandersetzung. Gut, dass überhaupt mal jemand publikumswirksam das Wort ergreift, er ist aber eben nicht Laurie Penny.
Vor kurzem bin ich über einen Titel gestolpert, der sehr vielversprechend klang und ich glaubte, ich würde mir das auf jeden Fall merken… Tja. Wenn es mir wieder einfällt, erfährst du davon.
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In Zeiten, in denen offenbar jegliche Form von Empathie und Feingefühl als Zeichen von Schwäche gedeutet und ausgenutzt wird, ein wichtiges, hochaktuelles Thema – sicher nicht nur in Großbritannien.
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Ui, toller Tipp. Bin ja gerade auch immer auf der Suche nach Literatur diesbezüglich, habe einen Sohn, der jetzt 9 ist und mit der Gruppendynamik bei den Jungs und deren Gebaren manchmal ganz schön zu kämpfen. Glücklicherweise ist sich mein Mann dieses Problems sehr bewusst und wir leben quasi Rollentausch. Brené Brown hat dazu in ihrem Buch „Verletzlichkeit macht stark“ auch geforscht und herausgefunden, dass sich viele Männer dieses Problems mittlerweile bewußter sind und diesen Druck, den auch wir Frauen unbewußt ausüben, furchtbar finden. Aber eben keine gangbaren Strategien finden … Interessant. Das Buch hol ich mir. Danke. LG, Bri
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Liebe Bri,
super, dass ihr euch des Problems so bewusst seid und euch bemüht, gegenzusteuern. Ich wünsche euch viel Erfolg dabei 🙂
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