„food was a wonderful place to hide“
Nach dreißig Jahren Ehe verlässt Richard Middlestein seine Frau Edie. Er kann nicht mehr mitansehen, wie sie sich langsam umbringt, wie sie immer mehr und mehr isst, immer dicker wird und eine Operation nach der anderen über sich ergehen lässt und trotzdem nichts an ihrem Lebensstil ändert. Von klein auf hat sie gelernt, dass Essen Halt gibt, Liebe und Trost bedeutet und daran hat sich nie etwas geändert. Es ist ihr Schutzschild in einem Leben, das sie selbst, nach einem vielversprechenden Start, vor allem als mittelmäßig bis vergeudet wahrnimmt. Ihre Ehe läuft schon seit Jahren nicht mehr rund, was ihren Mann aber weitaus mehr zu stören scheint. Klammheimlich mietet er sich eine eigene Wohnung, richtet sie ein und freut sich auf ein Leben, in dem er glaubt, noch einmal auf Liebe hoffen zu dürfen.
Am wenigsten Verständnis für die Trennung hat Schwiegertochter Rachelle, die perfektionistische Frau von Sohn Benny, die gerade einen Rettungsplan für Edie aufgestellt hatte, in dem sie selbst eine glorreiche Rolle spielte, aber natürlich auch Richard einen Großteil übernehmen sollte. Enttäuscht und wütend verbietet sie ihm den Umgang mit seinen Enkelkindern, deren Bar Mitzvah vor der Tür steht. Doch auch der Rest der Familie und der Gemeinde hat nur wenig Verständnis für Richards Verhalten. In dem Moment, in dem Edie ihn am dringendsten gebraucht hätte, so die allgemeine Wahrnehmung, verlässt er sie kaltherzig, statt ihr zu helfen. Dass Edie weder seine Hilfe noch die der anderen will, wird dabei übersehen. Mäßig motiviert geht sie Samstags mit ihrer missmutigen Tochter Robin ein bisschen spazieren, das ist Bewegung genug. An ihrer Ernährung ändert sich nichts, obwohl Rachelle ihr heimlich folgt und dokumentiert, wo sie isst. Rachelle selbst serviert ihrer Familie derweil nur Rote Bete und Grünkohl, was auf wenig Begeisterung stößt.
Edies Gewicht und ihr Essverhalten stehen im Mittelpunkt des Romans, wie auch im Mittelpunkt des Familienlebens. Auch aufgrund des Klappentexts erwartet man eigentlich eine Komödie, in deren Mittelpunkt die übergewichtige, lustige, lebensfrohe Mutter steht. So wie übergewichtige Menschen meistens eben dargestellt werden. Attenberg macht es dankenswerterweise anders. Bei ihr ist Edies Gewicht kein Gegenstand von Lächerlichkeit. Vielmehr wird der sich zusehends verschlechternde Zustand als Krankheit gedeutet, die man aufhalten könnte, wäre die Kranke denn bereit dazu. Dass sie es nicht ist, bringt jedes Familienmitglied an seine Grenzen, bis die Beziehungen daran zerbrechen. Angesiedelt ist die Geschichte in einem Milieu, dass man nicht auf den ersten Blick mit krankhaftem Übergewicht in Verbindung bringt. Die Middlesteins leben in einem hübschen Vorort von Chicago, sind nicht unbedingt reich, leben aber in geordneten Verhältnissen. Edie ist Anwältin im Ruhestand, ihr Mann selbstständiger Apotheker, die Tochter Lehrerin, der Sohn hat seinerseits eine Vorzeige-Kleinfamilie gegründet.
Attenberg entwickelt das Bild einer Familie, die nicht viel gemeinsam hat, deren Mitglieder sich zum Teil nicht mal besonders gut leiden können, die aber ihr bestes tun, um in einer schweren Zeit an einem Strang zu ziehen. Dabei merken sie nicht, dass die Person, um die es eigentlich geht, an diesem Strang nicht einmal interessiert ist, geschweige denn, daran zieht. Das aber bleibt bei weitem nicht die einzige Enttäuschung im Leben der Middlestein-Nachkommen, deren Biographien in diesem Roman ebenso thematisiert werden wie der Lebensweg ihrer Mutter.
Die Beziehungen der Personen untereinander werden mitunter nicht ganz klar, es werden Charakterisierungen aufgestellt, die nicht durch das Verhalten der Personen gestützt werden, aber insgesamt ergibt sich ein schlüssiges Porträt einer amerikanischen Suburbia-Familie, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann.
Jami Attenberg: The Middlesteins. Grand Central Publishing 2013. 276 Seiten, ca. €7,-. Erstausgabe Hachette Book Group 2012. Die deutsche Taschenbuchausgabe ist unter dem Titel Die Middlesteins angekündigt für den 08.08.2016. Die gebundene Ausgabe ist bei Schöffling erschienen.
Das Zitat stammt von Seite 253 der o.a. Ausgabe.
Ich lese das Buch gerade – auf Deine Empfehlung übrigens 🙂 werde Deine Besprechung dann später lesen, wenn ich durch bin.
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Das freut mich, wenn meine Hinweise Gehör finden 🙂
Ich bin gespannt, was du sagst, und wünsche viel Spaß beim Lesen!
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Klar, ich höre Dir immer zu! 🙂
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Es klingt spannend!!! Vor allem bin ich neugierig auf die Mutterfigur, die offensichtlich gar nicht an einer Änderung interessiert ist. Mir sind in der eigenen Familie und auch unter Freund/innen schon etliche Menschen begegnet, die völlig desinteressiert an ihrem eigenen Dilemma (Sucht, Krankheit, etc.) sind. Und es ist tatsächlich schwer, das als Angehörige, Freundin zu ertragen. Also ein mehr als zeitgemässes Thema. Danke für den Tipp!
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