Donna Tartt: Der Distelfink

distelfink„Aber ich denke, vielleicht ist es mehr wie eine Spalte mit Zahlen: Wenn du am Anfang zwei falsche Zahlen einträgst, ist am Ende die Summe anders. Wenn du es zurückverfolgst, findest du den Fehler – die Stelle, an der sich das Ergebnis verändert.“

Theo Decker hat einen Menschen getötet. Das erfährt man gleich auf der ersten Seite. Er sitzt in einem Amsterdamer Hotelzimmer, es ist Winter, es ist kalt und er hat panische Angst, entdeckt zu werden, doch sein Niederländisch reicht nicht aus um zu erfahren, wie die Ermittlungen laufen. Man erfährt nicht, wen er getötet hat und warum, die nächsten 890 Seiten nicht.

Stattdessen erfährt man, dass Theo im Alter von dreizehn seine Mutter bei einem Terroranschlag auf ein Museum verloren hat. Sie wollte ihm ein besonderes Gemälde zeigen, den Distelfink. Doch Theo ist viel interessierter an einem Mädchen mit feuerroten Haaren, das mit einem älteren Verwandten die Ausstellung besucht. Als er den Mut findet, sich ihr zu nähern, explodiert eine Bombe und beendet sein bisheriges Leben. Impulsiv rettet er den Distelfink aus den Trümmern des Gebäudes und behält ihn. Schnell realisiert er, dass er ein bedeutendes Kunstwerk entwendet hat und weiß, dass er es zurückgeben muss. Doch er findet nicht den Mut, mit jemandem darüber zu sprechen und je länger er es behält, umso unmöglicher wird es. Langsam wird deutlich, dass dieses Gemälde sein ganzes Leben bestimmen wird, ebenso wie Pippa, das Mädchen, in das er sich Minuten vor der Explosion verliebt hat.

Durch den Tod seiner Mutter wird eine Lawine von Ereignissen losgetreten, die Theos Leben in ganz neue Bahnen lenken. Doch egal, wie gut oder schlecht es gerade für ihn läuft – der Distelfink taucht immer wieder als feste und bestimmende Größe auf, ebenso wie die immer wiederkehrende und quälende Frage, was gewesen wäre, wenn er mit seiner Mutter nicht ins Museum gegangen wäre, wenn sie an diesem Morgen an irgendeinem anderen Ort gewesen wären, wenn sie frühstücken gegangen wären.

Dadurch, dass die Handlung mit einem von Theo begangenen Tötungsdelikt beginnt, bekommt der Roman einen starken Spannungsbogen – man weiß, dass er töten wird und fragt sich bei nahezu jeder Person, ob sie das Opfer sein wird, man sucht permanent nach möglichen Motiven. Zwischenzeitlich hat der Roman dennoch seine Längen. Theo beginnt eine Ausbildung beim Restaurator Hobie, der seitenlang von Furnier sprechen kann und davon, wie man ein Möbelstück älter, originaler aussehen lässt, als es ist. Falls das irgendwann zur Handlung beiträgt, habe ich es nicht bemerkt, möglicherweise kann man die Restauration aber als Bild für Theos Entwicklung nach dem Anschlag betrachten.

In einigen Phasen seines Lebens rutscht Theo ziemlich ab und gerät in einen Strudel aus Drogenabhängigkeit und Fehlentscheidungen, der ihn sämtliche Sympathien und den Leser viele Nerven kostet. Doch durch den starken Start hält Tartt den Leser trotzdem bei der Stange – denn ganz gleich, wieviel über Chippendale-Möbel gesprochen wird, man will wenigstens noch wissen, wer stirbt. Hinzu kommt, dass sie ein ganzes Arsenal sehr gut ausgearbeiteter und schlüssiger Charaktere liefert, die aus jedem Bereich der Gesellschaft kommen und dem Roman so eine spannende Vielschichtigkeit verleihen.

Zudem überzeugt Donna Tartts präziser Stil, bei dem jedes Wort sitzt. Ich habe wahnsinnige Mühe gehabt, ein Zitat zu finden, das ich an den Anfang dieser Rezension stellen kann (und nicht müsste, aber ich mag das), weil man kaum einen Satz isolieren kann, weil alle Sätze ein so enges Geflecht ergeben, dass es fast unmöglich ist, einen einzelnen herauszunehmen, der ohne Kontext noch wirkt. Tartt schreibt lange an ihren Romanen, zehn Jahre lagen zwischen Der kleine Freunde und Der Distelfink, und das merkt man dem Text an. Außerdem musste sie offenbar eine Bibliothek voll Bücher über Restauration lesen.

Trotz Killer-Start ist dieses Buch kein Krimi, aber auf eine mitunter enervierende Art spannnend und trotz einiger Längen absolut lesenswert.


Donna Tartt: Der Distelfink. Gelsen in der Ausgabe Goldmann 2013. Übersetzt von Rainer Schmidt und Kristian Lutze. 1022 Seiten, € 24,99. Taschenbuch-Ausgabe Goldmann 2015. Originalausgabe: The Goldfinch. Little, Brown and Company 2013.

Das Zitat stammt von S. 818 der Hardcover-Ausgabe.

9 Gedanken zu “Donna Tartt: Der Distelfink

  1. jongleurin 24. Mai 2016 / 12:07

    Ich fand es auch toll, trotz des etwas hanebüchenen letzten Teils. Danke für deine Rezension!

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    • Marion 25. Mai 2016 / 17:09

      Die geheime Geschichte fand ich ganz toll. Das war mein erster Tartt-Roman, den ich zufällig in einem Bücherschrank gefunden habe. Jetzt will ich den kleinen Freund nicht lesen, weil es dann nichts mehr gibt.

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  2. Tobias Illing 25. Mai 2016 / 16:32

    Was mich immer wieder amüsiert, ist die kleine Kennzeichnung, wonach es sich bei einem Buch um ein „Leseexemplar“ handelt. Ja liebe Verleger, was denn sonst? 1000+ Seiten eigenen sich zwar auch als Türstopper, aber so ein Roman will doch gelesen werden – oder nicht?

    Ich weiß, was gemeint ist – finde die Bezeichnung für eine mit Wörtern arbeitende Branche aber irgendwie tapsig. Was ist so schlimm an Rezensionsexemplar?

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    • Marion 25. Mai 2016 / 17:01

      Meine ehemalige Chefin sagte mal, wir müssten bitte jedes Buch über die Kasse ziehen, bevor es den Laden verlässt, auch wenn wir es „nur“ mitnehmen würden um es zu lesen. Nur? Was soll ich denn sonst mit einem Buch machen, das mir (noch) nicht gehört?

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  3. Felicitas Sturm 27. Juni 2016 / 20:51

    Oh, vielen Dank für diese Rezension. Seit Wochen und Monaten bleibe ich immer wieder vor diesem Buch stehen, halte es in der Hand, blättere es durch, nur um es dann doch nicht zu kaufen. Vielleicht sollte ich das jetzt endlich mal tun 🙂

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    • Marion 27. Juni 2016 / 23:27

      Ich glaube unbedingt, dass du das solltest! Bücher, die einen immer wieder anziehen, wollen aus irgendwelchen Gründen gelesen werden.

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