Jhumpa Lahiri: Das Tiefland

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„Sie hatte Subhash geheiratet, um so mit Udayan verbunden zu bleiben. Aber sie wusste von Anfang an, dass es nichts nützte, dass es genauso wenig nützte, wie einen einzelnen Ohrring aufzuheben, wenn der andere verloren gegangen war.“

Subhash und Udayan trennen nur fünfzehn Monate. Die beiden Brüder wachsen in Kalkutta auf, in einer Wohngegend am Rande einer Senke, dem namengebenden Tiefland, das zur Regenzeit unter Wasser steht. Udayan ist immer etwas mutiger und etwas hitzköpfiger als sein Bruder. Schon als Jugendlicher begeistert er sich für Politik und schließt sich Ende der 60er den Naxaliten an. Subhash hingegen distanziert sich von den gewalttätigen Aktionen der Bewegung und nutzt die Möglichkeit, in den USA Biologie zu studieren. Nachdem sie in ihrer Jugend fast keinen Tag getrennt waren, besteht der Kontakt der beiden Brüder jetzt nur noch aus Briefen. Es geht ihm gut, schreibt Udayan, er habe sich verliebt und wolle heiraten, allerdings seien die Eltern mit der Beziehung nicht einverstanden. Selbstverständlich setzt er sich darüber hinweg und heiratet seine große Liebe Gauri. Von politischen Aktivitäten steht nichts in seinen Briefen und Subhash nimmt an, dass sich die jugendliche Begeisterung seines Bruders gelegt hat.

Doch dann erhält er die Nachricht, dass Udayan erschossen wurde. Nach Jahren reist er das erste mal wieder nach Indien. Die Eltern verkraften den Tod des geliebten Sohns nicht und sind am Boden zerstört. Auch Gauri ist vom frühen Tod ihres Mannes schwer getroffen. Sie muss nun allein im Haus der Schwiegereltern leben, die sich schon jetzt keine Mühe mehr geben, ihre Abneigung ihr gegenüber zu verbergen. Subhash macht ihr einen ungewöhnlichen Vorschlag – sie soll ihn heiraten und mitkommen in die USA. Gauri willigt ein und von da an entspinnt sich ein Geflecht unglücklicher und glücklicher Beziehungen, denen man über Jahrzehnte folgt, von den 70ern bis in die Gegenwart.

Beeindruckend sind die Schilderungen kultureller Unsicherheit. Subhash selbst ist noch kein Teil der amerikanischen Gesellschaft geworden, als er Gauri mitnimmt nach New England und kann ihr keine Hilfe sein bei den ersten Schritten in der neuen Welt. Gauri wird fast verrückt in ihrem ersten Winter, in einer Kälte, die sie so noch nie erlebt hat, auf die sie keiner vorbereiten konnte, und in einem Umfeld, dessen grundlegenste Elemente sie manchmal nicht versteht, dessen Nahrungsmittel sie nicht einmal kennt. Aus der klugen, lebensfrohen, offenen Studentin, die sich auf ihr Kind freut, wird eine zurückgezogene Frau, die sich kaum noch aus der kleinen Wohnung wagt und nicht weiß, wie sie an diesem Ort ein glückliches Kind großziehen soll.

Die Geschichte braucht etwas, um in Gang zu kommen, ist dann aber fantastisch erzählt. Die Figuren sind schlüssig charakterisiert, ihre eigenen Konflikte sind ebenso nachvollziehbar wie die Probleme untereinander. Niemand ist gut oder böse, niemand alleine Schuld an dem Zerbrechen von Beziehungen. Und niemand muss sich rechtfertigen für das Ende von Beziehungen, niemand muss psychische Erkrankungen erklären, manchmal muss man einfach gehen.

Eine sauber konstruierte und spannend erzählte Familiengeschichte mit melancholischen Untertönen, die absolut lesenswert ist und dieses langweilige Cover wirklich nicht verdient hat. Eines meiner Lieblingsbücher 2014!


Jhumpa Lahiri: Das Tiefland. Rowohlt 2014. € 22,95, 528 Seiten. Übersetzt von Gertraude Krueger. Taschenbuch ab Dezember 2015 bei Rowohlt. Originalausgabe: The Lowland. Knopf 2013.

3 Gedanken zu “Jhumpa Lahiri: Das Tiefland

  1. serendipity3012 27. Oktober 2015 / 18:39

    Ein ganz tolles Buch, ich mochte es auch sehr. Und das Cover gefällt mir auch 😉

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    • March Hare 27. Oktober 2015 / 18:47

      🙂 ich finde das Cover auch machbar, aber es hat so wenig mit dem Buch zu tun… Und es freut mich, dass Du das Buch auch mochtest!

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