Die zwölfjährige Christina lebt mit ihren Brüdern Dan und Marcel in einem kleinen Dorf in Moldawien. Sie geht zur Schule, die Brüder noch in den Kindergarten. Der Hof der Familie ist nicht mehr groß, nur noch ein Schwein und ein paar Hühner gilt es zu versorgen. Doch das alles muss Christina alleine machen, sie muss sich auch um die Wäsche und die Mahlzeiten der Brüder kümmern, denn beide Eltern arbeiten im Ausland, wo es das „lange Geld“ gibt. Die Mutter lebt in Italien wo sie auf Kinder aufpasst, deren abgelegte Kleider sie manchmal den eigenen Kindern mitbringt. Der Vater arbeitet in Russland, wo er wertvolle Steine abbaut, von denen seine Zähne ausfallen.
Christina redet sich und ihren Brüdern ein, dass sie es gut haben. Ihre Mutter bringt Geld mit, von dem sie Spielsachen kaufen können, die andere Kinder nicht haben. Und viele Kinder im Dorf werden von ihren Vätern geschlagen – besser, man hat gar keinen. Nur manchmal muss Christina früher aus dem Unterricht gehen, weil sie sich vor Hunger nicht mehr auf den Beinen halten kann, weil morgens wieder Zeit sein musste für alles außer ihr eigenes Frühstück. Aber geweint wird erst um acht Uhr abends, wenn das Schwein gefüttert ist, die Hühner wieder im Stall, das Geschirr abgewaschen. Für ein bisschen Flennerei kann man ja nicht alles stehen und liegen lassen. Manchmal spielen die drei Vater, Mutter, Kind und Christina darf ausnahmsweise das Kind sein.
Sonst spricht Christina nur über ihre Brüder als „die Kinder“. Sich selbst zählt sie, obwohl gerade erst zwölf, nicht mehr dazu, mit anderen Mädchen unterhält sie sich selbstverständlich über Hauswirtschaft und staunt über Berichte aus Westeuropa – kann es sein, dass dort die Kinder nicht wissen, wie man Wäsche macht, wie man Ziegen melkt? Mit ihrer Freundin Alisa übt sie uralte Beschwörungsrituale, in der Hoffnung, dass einer der Zauber die Eltern wieder nach Hause bringen kann. Aber in diesem Jahr werden sie wohl erst kommen, wenn die Großmutter beerdigt wird.
Die ganze Geschichte wird in einer Art Bericht von Christina erzählt. Dadurch ist man den Figuren, ihren Gedanken und Gefühlen sehr nah. Allerdings ist nicht glaubhaft, dass dieser Bericht so tatsächlich von einer Zwölfjährigen stammen könnte, so reflektiert und erwachsen sind die Gedanken. Damit muss man während des Lesens leben können. Auffällig ist dies vor allem wenn Alisa auftaucht, die Christina „Lektionen in Natürlichkeit“ lehrt, uraltes Wissen über Rituale und Beschwörungen. „Die Natur gibt uns alles, wir müssen bloß lernen, es anzunehmen. Sie bietet uns mehr als unsere Eltern.“ Auch für ein Mädchen, das sehr früh erwachsen werden musste, sind das sehr fortgeschrittene Gedanken, wie auch alle anderen Kapitel, die sich mit dieser Thematik befassen, nicht so recht ins Gesamtbild passen wollen.
Dafür schafft Corobca es, die Geschichte so zu erzählen, dass sie rührend aber nicht rührselig ist. Weder verklärt sie, noch dramatisiert sie die Situation, die schon dramatisch genug ist, wenn man bedenkt, dass dieses Leben für viele Familien Realität ist. Ein guter Roman über ein selten behandeltes Thema, der ohne Naturmystik bestens ausgekommen wäre.
Liliana Corobca: Der erste Horizont meines Lebens. Paul Zsolnay Verlag 2015. 190 Seiten, € 18,90. Übersetzt von Ernest Wichner. Originaltitel: Kinderland. Editura Cartea Româneascǎ 2013.