Ein Jahr und einen Tag nach der Katastrophe von Tschernobyl wird die Erzählerin dieses Romans in einer unbedeutenden Stadt in Westdeutschland geboren. Ihren Eintritt in die Welt verortet sie gleich zum Einstieg mit Hilfe einer Katastrophe und nicht weniger katastrophal geht die Geschichte weiter.
Als sie gerade acht Jahre alt ist, stirbt ihr Vater. Sie erinnert ihn als einen wahren Koloss von fast vierhundert Kilo, an dessen Tod sie glaubt, Schuld zu tragen. Immerhin habe er sich, so erzählt sie, an einer Kreissäge tödlich verletzt, als er der Tochter eine Schaukel bauen wollte. Ob das so stimmt – man weiß es nicht. Önders Erzählerin ist ausgesprochen unzuverlässig und oft genug weiß man nicht, ob das Erzählte der kindlichen Erinnerung entspringt, reine Phantasie ist oder als reine Metapher gelesen werden muss: ein Haus, das mitten auf einer Wiese steht mit einem Boden aus Gras, Hannelore Kohl und ihr dicker Mann als joviale Nachbarn, eine Hochzeitsnacht unterm Esstisch. Önders Roman besteht aus Sequenzen, die mal verzweifelt und mal zornig sind, und in die man sich immer wieder einfinden muss. Erzählt wird vor allem aus Kindheit und Jugend der Erzählerin die nun wirklich nicht leicht war, soviel kann man sich aus den Splittern zusammensetzen.
„Immer was los ist da im Mädchen: Vorbei kommen Pizza und Panikattacken, Ängste und Aufläufe, Gummitiere und Gewalterinnerungen.“
Das Aufwachsen und Erwachsenwerden erscheint ihr nicht als zielgerichteter Weg, sondern als Fallen. Eine Zeitlang fällt sie immerhin gemeinsam mit Freundinnen, doch als ihre Wege sich trennen, muss sie den Sturz ins Bodenlose alleine ertragen. Sie schafft es nicht. Dem Tod des Vaters und der Abwesenheit der Mutter begegnet sie zunächst mit Essattacken, wenig später mit Bulimie. Das ist der Umgang, den sie finden kann, um sich und der Welt zu begegnen. Den Sturz ins Loch aber bremst sie damit natürlich nicht.
Yade Yasemin Önder ist nicht zimperlich in ihrem ersten Roman. Die Bulimie wird anschaulich geschildert, ebenso wie die wenig romantischen Details der wahllosen sexuellen Beziehungen, mit denen die Erzählerin versucht, ihre Einsamkeit und Leere zu kompensieren. Der Grundton des Romans spiegelt die Verzweiflung der Protagonistin, die auf ihre Ängste und Überforderung vor allem zornig reagiert. Alle ihre Handlungen scheinen ein Abarbeiten an der Welt zu sein, die ihr freiwillig keinen Platz geben will, ein um sich Schlagen auf der Suche nach Halt. Die Konstruktion des Romans ist ebenso mutig wie seine Sprache. Önder macht es einem nicht leicht, sich ihrer Protagonistin zu nähern, deren Wesen man zwischen all den Splittern erstmal finden muss. Lohnend aber ist es allemal.
tl;dr: Ein mutig konstruierter und rabiat erzählter Roman um eine Frau, die in ihren Jugendjahren keinen Halt finden kann und immer weiter in ein Loch stürzt, aus dem kein Weg mehr herauszuführen scheint.
Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron. Kiepenheuer und Witsch 2022. 256 Seiten.
Das Zitat stammt von S. 223.
Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
Alleine für „ein rabiat erzählter Roman“ verdient der Roman eine Probelektüre … rabiate Romane hört sich nach einer wunderbaren Kategorie an 😀
LikeGefällt 1 Person