Karlotta, oder Karla wie sie genannt werden will, wächst auf in Bremen Nord, in einer Gegend, die allgemein als gescheitert gilt. Hierher hat es vor Jahrzehnten ihre Großmutter Maryam verschlagen, als sie den großen Versprechen Glauben schenkte und als angeworbene Arbeiterin von der Türkei nach Deutschland kam. Als Armenierin kann sie in der Türkei keinen Frieden finden und auch keine geregelte Arbeit mehr. Seit einem furchteinflößenden Pogrom gegen die nicht-türkischstämmige Bevölkerung im Land nennt sie sich draußen auf der Straße nur noch Meryem, und ihren kleinen Sohn Avi ruft sie sicherheitshalber Ali. Bloß nicht auffallen, nur nicht anecken. Im Ausland hoffte sie, Ruhe und ein sicheres Auskommen zu finden, nur für einige Jahre. Schnell merkt sie, dass die Realität weit weniger rosig ist, als die Hoffnungen, die man ihr gemacht hat. Dennoch kehrt sie nie mehr zurück.
Ihr Sohn folgt ihr nach vielen Jahren, heiratet eine deutsche Frau und bekommt eine deutsche Tochter, der er den deutschesten Namen von allen gibt – Karl und Otto in einem, Karlotta. In ihrer Kindheit begreift Karlotta, dass ihre Familie aus der Türkei kommt und auch, dass sie nicht wie ihre türkischen Freundinnen ist. Was Armenier sind, das weiß sie nicht genau und in ihrer Familie wird auch nicht darüber gesprochen. Eine zweite Heimat in der Ferne, das haben nur ihre Freundinnen, die in jedem Sommer die Großmütter auf den Prinzeninseln besuchen. Karlotta und ihre Eltern bleiben in Bremen oder fahren nach Griechenland, wenn das Geld mal reicht.
Erst der Tod der Matriarchin Maryam gibt Karla den Impuls, nach ihrer Familiengeschichte zu suchen, die irgendwo unter Jahrzehnten von Scham und Schweigen verborgen liegt. In Maryams Nachlass findet sich ein Armreif, der Lilit gehört und ihr wiedergegeben werden soll. Niemand hat je von einer Lilit gehört. Unnachgiebig überredet Karla ihren Vater, mit ihr nach Armenien zu reisen, in die Hauptstadt Jerewan, um endlich zu sehen, wo die Wurzeln ihrer Familie sind. Doch selbst der Vater fühlt sich zunächst fremd in in diesem Land, in dem er noch nie war und wo er die Menschen kaum versteht. Vom Essen bis zur Sprache ist den beiden alles fremd, was doch eigentlich gemäß ihrer familiären Herkunft ihre Kultur und Heimat sein sollte. Dennoch ist die Reise für Karla sehr aufschlussreich. Und wohl auch für ihren Vater, aber der redet immer noch nicht viel darüber.
„Ach, Karlotta, es ist nicht gut, sich mit diesen alten Sachen zu beschäftigen.“
Auf der Straße heißen wir anders erzählt von einer Familie, die nie dazu gehört, ob in Istanbul oder Bremen Vegesack. Sie kommen nicht an, sie passen nicht rein. Zu vage sind ihre Identitäten, zu wenig Ankerpunkte gibt es in ihren Biographien und ihrer Familiengeschichte. Cwiertnia gelingt mit diesem Roman ein beeindruckendes und sprachlich sehr gelungenes Debüt, das nicht nur von einer Familie erzählt, sondern auch vom Genozid an den Armeniern und davon, wie schwer dieses Unrecht auch noch Generationen später wiegt. Zugleich berichtet sie aber auch von einer armenischen Kultur, die ihre Protagonistin als lebendig, liebenswert und doch fremd erlebt. Dabei verknüpft sie sehr gekonnt verschiedene Zeitebenen, berichtet von einer Jugend in den 90ern und einer in den 50ern, von Sorgen, Ängsten und Kämpfen seit 1915. Cwiertnia verpackt diese komplexe Thematik in einen Roman, der sich sehr persönlich, leicht und doch nicht seicht liest. Ein wirklich gelungenes Debüt!
Laura Cwiertnia: Auf der Straße heißen wir anders. Klett Cotta 2022. 240 Seiten.
Das Zitat stammt von S. 51, zitiert nach dem eBook mit 199 Seiten.
mochte ich auch. Aber der Anfang hing irgendwie bgisserl in der Luft.
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Bis wohin denn, fandest du?
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Der gesamte early teen-Anfang… Da werden all diese Beziehungen zu den anderen Teenager-Figuren entwickelt, und dann komplett fallen gelassen. Ich hätte doch erwartet, dass wenn solche Akribie auf Teenager-Probleme und Teenager-Freundschaften verwandt wird, das wenigstens zwischendurch oder zum Schluss noch einmal aufgegriffen wird.
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Das stimmt, aber ich fand, die ganze Situation in der Jugend hat eben auch das nicht dazu gehören beschrieben. Also eben der Kontrast zu den türkischen Mitschüler*innen und dann auch das Leben in der Grohner Düne. Das ist die vielleicht schlechteste Adresse, die man in Bremen haben kann. Und überhaupt Bremen Nord – das zählt ja nur noch halb als Bremen.
Also ich sehe, was dich daran stört, habe das aber eher als schwierige Phase der Identitätsfindung gelesen und weniger in Hinblick auf die Freundschaften an sich.
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