Mobilität neu denken – „Autokorrektur“ von Katja Diehl

Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind – zumindest hat man diesen Eindruck, wenn man einen Blick auf Deutschlands Straßen wirft. Autos, wo das Auge hinfällt. Die werden nicht nur immer mehr, sondern auch immer größer und fordern damit immer mehr Raum. Längst ist es normal, dass private PKW im öffentlichen Straßenraum abgestellt werden, auch da wo es zu Lasten derer geht, die nicht im Auto unterwegs sind. Auf vielen Gehwegen ist gar kein Durchkommen mehr, schon gar nicht für Menschen, die mit Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl unterwegs sind. Keinem anderen Privatgut wird so dauerhaft so viel öffentlicher Raum zugestanden.

Muss das so sein? Warum schwärmen wir nach dem Urlaub von den verkehrsberuhigten Innenstädten Südeuropas, wo man so wunderbar in der Sonne einen Kaffee trinken kann, akzeptieren aber die übrigen 50 Wochen lang, dass vor unserer Tür nur Blech steht? Denn tatsächlich werden Autos kaum gefahren und stehen den ganzen Rest des Tages irgendwo rum. Geht das nicht anders?

Das geht auch anders. Katja Diehl, die lange Jahre Erfahrung in der Logistik-Branche hat, weiß das und hat auch ein paar Ideen, wie es besser sein könnte. Andere Städte und Länder zeigen das längst in der Praxis. In Deutschland aber geht die Mobilitätsplanung zu oft am Menschen vorbei. Statt darüber nachzudenken, wie man die Menschen aus den Autos rauskriegt, überlegt man, wie man mehr Autos in einer Stadt unterkriegt. Dabei, dessen ist Diehl sich sicher, fahren viele Leute gar nicht so wahnsinnig gerne Auto. Es ist stressig und kostet enorm viel Geld. Aber die Alternativen gehen an vielen Orten am Bedarf der Menschen vorbei, sind schlecht ausgebaut, dreckig, unsicher, nicht barrierefrei oder aus anderen Gründen unattraktiv. An zu vielen Orten entscheiden Menschen über Mobilität, die körperlich nicht eingeschränkt sind, selten mit Kindern unterwegs sind und von Montag bis Freitag von 08.00 – 17.00 Uhr arbeiten. Die Mobilität, die sie erdenken, passt gut zu ihren Bedürfnissen. Damit geht sie aber auch leider am Bedarf vieler, vieler Menschen vorbei. Und die setzen sich dann ins Auto, weil sie nicht mit drei Kindern und Freibad-Ausrüstung 50 Minuten mit zwei mal umsteigen durch die Stadt gondeln wollen. Kein Wunder.

„Aber der erste Schritt scheint der schwerste zu sein: anzuerkennen, dass wir unsere Lebensräume reparieren und dafür dem Auto die Exklusivität nehmen müssen.“

Auf den Straßen tobt mancherorts ein Kampf zwischen Autofahrer*innen und Nicht-Autofahrer*innen, der vor allem auf moralischem Boden ausgefochten wird. Die einen sähen die Stadt am liebsten autofrei, die anderen sehen ihre Freiheitsrechte beschränkt, wenn irgendwo ein Parkverbot ist. Katja Diehl steigt da nicht ein, sondern zeigt sehr sachlich und fundiert auf, was falsch läuft, warum es so nicht länger laufen kann und was besser werden muss. Und zwar so, dass am Ende alle eine entspanntere Mobilität und eine schönere Stadt haben. Die Mobilität, wie sie heute ist, ist ja nun kein Naturgesetz, sondern wurde mal von Menschen so gemacht. Und sie kann auch wieder anders gemacht werden. Korrigiert eben.

Autokorrektur ist eine angenehm sachliche Auseinandersetzung mit einem Thema, das den Boden der Sachlichkeit vielerorts schon lange verlassen hat. Das Buch zeigt Missstände auf, hat aber auch immer einen Lösungsvorschlag. Katja Diehl zeigt, dass das Verteufeln des Autos an sich zu gar nichts führt, wir uns aber Gedanken machen müssen, wie eine neue Mobilität aussehen kann. Und sie macht Lust darauf, sie mitzugestalten. Für Fahrrad- wie Autofahrer*innen eine gewinnbringende Lektüre. Und sicher auch gut in der Straßenbahn zu lesen.


tl;dr: Wer in einer deutschen Großstadt wohnt, hat wahrscheinlich mehr Autos als Bäume vorm Fenster. War das schon immer so? Kann das nicht anders sein? Kann es. Katja Diehl zeigt wie.


Katja Diehl: Autokorrektur. Mobilität für eine lebenswerte Welt. S. Fischer 2022. 262 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 237.

Ich danke meiner Kollegin, die mich das Buch als Fachliteratur hat abrechnen lassen.


Falls es jemand wissen will: Ich habe kein Auto, aber zwei Fahrräder, auf denen ich durch die Gegend bretter, als gäbe es kein Morgen. In meinen Stadtteil fährt keine Straßenbahn, dafür aber die rumpeligste Buslinie der Stadt, die ich nicht so wahnsinnig gerne benutze. In der Straße, in der ich wohne, ist meistens nur ein Gehweg durchgehend benutzbar, weil auf dem anderen aufgesetzt geparkt wird. Der Radweg, der zu dieser Straße führt, ist an drei von fünf Tagen zugeparkt, weshalb ich an fünf Tagen pro Woche auf der Straße fahre. Außerdem ist der Radweg nicht benutzungspflichtig, ihr könnt mir also gar nichts.
Vorher habe ich in einer Straße gewohnt, in der der Gehweg immer beidseitig unbenutzbar war (bzw. ausschließlich als Abstellfläche genutzt wurde) und es ein etabliertes Spektakel war, wenn die Müllabfuhr kam, dann mussten nämlich immer Autos abgeschleppt werden. Das Spektakel war noch größer, als dann wirklich mal die Feuerwehr nicht durchkam. Da war ich aber in Urlaub und habe das nur in der Lokalpresse verfolgen können. Laufen musste man aber fast immer auf der Straße, spätestens, wenn man Überbreite hatte, z. B. wenn man eine große Packung Klopapier gekauft hat. Viele Autos in dieser Straße wurden regelmäßig zwei Wochen oder länger nicht bewegt.
Die beiden Straßen, die man relativ einhellig für die schönsten Stadt hält, sind autofrei.

9 Gedanken zu “Mobilität neu denken – „Autokorrektur“ von Katja Diehl

  1. Christoph 29. März 2022 / 16:46

    Vor ein paar Jahren habe ich mir im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt eine Ausstellung zu dem Thema angeschaut (https://dam-online.de/veranstaltung/fahr-rad/?msclkid=1bfc943baf6e11ecb20e7c3739823686) — zu sehen, wie viel weiter andere Länder in Sachen Mobilitätswende damals schon waren, war ziemlich beeindruckend (und aus deutscher Sicht bestürzend). Und ich habe nicht den Eindruck, dass sich seitdem etwas geändert hat, obwohl dauernd über Lastenräder und 365-Euro-Tickets gesprochen wird.

    Immerhin wurden auf dem Radweg, den ich regelmäßig benutze, letztes Jahr die gröbsten Schlaglöcher ausgebessert. Die vielen anderen Gefahrenstellen hat man aber natürlich nicht entschärft.

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    • schiefgelesen 29. März 2022 / 18:20

      Spannende Ausstellung! Die hätte ich auch gerne gesehen.
      Bremen hält sich (lt. ADFC Fahrradklima-Umfrage) seit Jahren tapfer auf Platz 1 der fahrradfreundlichsten Städte über 500.000 Einwohner, das allerdings mit einer Gesamtschulnote von 3,6. Dass man damit Klassenbester werden kann, lässt tief blicken. Da sind andere Länder wirklich schon deutlich weiter.
      Im Vergleich zu anderen Städten, in denen ich gelebt habe, ist Bremen allerdings Gold, Zu verbessern gibt es natürlich trotzdem vieles und auch hier wird mehr beabsichtigt als geplant und erst recht als gemacht.

      Ich bin gerade sehr gespannt, ob das 9-Euro-Ticket wirklich kommt oder in bürokratischen Mühlen zermahlen wird, wie es angenommen wird und vor allem, was man aus diesem bundesweiten Verkehrsversuch mitnimmt.

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      • Christoph 30. März 2022 / 13:23

        Meine Prognose ist ja leider: Das Neun-Euro-Ticket hat mittel- und langfristig keinen großen Effekt. Und in ländlich geprägten Gegenden ist es eh egal, was die Fahrt mit dem nicht vorhandenen Bus theoretisch kosten würde. 😉

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      • Christoph 30. März 2022 / 14:31

        Und obwohl ich fast 150 Euro pro Monat für mein Jahresticket zahle, ist der Preis eigentlich das, was mich noch am wenigsten am hiesigen ÖPNV stört. Alles, was über die schlichte Fahrt von A nach B hinaus geht, ist nämlich entweder nicht möglich oder absurd kompliziert.

        Für die Fahrradmitnahme gibt es etliche Regelungen, aber zu manchen Zeiten kann man selbst gegen Zuzahlung einfach kein Rad in der S-Bahn mitnehmen (und mancherorts nicht mal sicher an der Haltestelle abstellen). Die Fahrtstrecke über die bezahlte Zone hinaus zu verlängern, ist nur schwer möglich (und erst recht nicht spontan nach Fahrtantritt mit dem Handy), jemanden vergünstigt mit dem eigenen Ticket mitfahren zu lassen, ist nicht vorgesehen. Das Abo kann man nur komplett kündigen, nicht aber wegen Urlaub/Krankheit/längerer Zeit im Homeoffice unterbrechen. Danach muss man den ganzen Papierkram wieder neu ausfüllen. Und so weiter, und so fort. All diese Dinge werden seit 20 Jahren immer wieder von allen möglichen Seiten bemängelt, aber geändert hat sich eigentlich nichts.

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        • schiefgelesen 30. März 2022 / 14:47

          Das ist ein wirklich ganz schön teures Monatsticket. Und der Rest klingt auch nicht sonderlich attraktiv. Das Monatsticket, das ich hier hatte, hatte immerhin eine recht großzügige Mitnahmeregelung und war übertragbar. Fahrrad-Transport ist aber auch hier so gut wie unmöglich.

          Ich fahre inzwischen extrem selten ÖPNV, vor allem weil ich mit dem Rad fast immer schneller bin. Es ist auch günstiger, aber das ist zweitrangig. Mit dem Fahrrad brauche ich 15 Minuten zur Arbeit, mit dem ÖPNV 30, wenn man die Fußwege zu und von den Haltestellen mit einberechnet. Als ich noch in recht bequemer Laufweite zum Bahnhof gelebt habe, habe ich es mehr genutzt, weil dort auch am späten Abend noch genug Linien halten. Jetzt wird es nach 22.00 Uhr wirklich mühsam. Also auch da lieber Rad oder mit der Bahn hin, mit dem Taxi zurück.

          Sollte es aber dieses 9-Euro-Ticket geben, würde ich es mir wohl trotzdem holen, allein schon weil hier das Tagesticket schon fast so viel kostet. Vielleicht fahre ich dann ja auch mal an die Orte, an die ich sonst nie fahre, weil es mit dem Fahrrad so lange dauert. Vielleicht bin ich aber auch für die Busfahrt zu bequem. Wir werden sehen!

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  2. Alexander Carmele 29. März 2022 / 21:11

    Ich fahre in Berlin seit Jahr und Tag Fahrrad. Ich habe nie verstanden, wieso man als Großstädter ein Auto benötigt, es sei denn für den Beruf. Das Fahrradfahren ist lange Zeit ein Grauen gewesen, Fahrradspuren haben nun auf den Hauptverkehrs-Trassen vieles einfach gemacht. Ich habe das Gefühl, dass sich da bald sehr viel ändern wird. Die modernen Medien (bspw. Abstandsmessung) erlauben hautnahe Überprüfungen, wie nahe die Autos tatsächlich an den Radfahrenden vorbeifahren. All das wird sehr interessant werden, und zudem wird das autonome Fahren auch viel verändern.

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    • schiefgelesen 29. März 2022 / 22:01

      Ändern muss und wird es sich hoffentlich. Bisher steigen die Zahlen der Autos ja nur immer weiter. An vielen Orten fehlt es auf jeden Fall an brauchbaren Alternativen, aber große Teile von Großstädten gehören nun eben nicht dazu. Wobei Katja Diehl auch zu Recht anmerkt, dass gerade der ÖPNV für viele Personengruppen insbesondere in der Nacht kein Raum zum Wohlfühlen ist.
      Aber du hast Recht, was neue Techniken an Entwicklungen und Möglichkeiten mitbringen ist auch sehr spannend.

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  3. eimaeckel 29. März 2022 / 22:31

    Kein Wunder, dass du nirgendwo durchkommst, wenn du ständig mit zwei Fahrrädern herumbretterst. 😉

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