Wie können wir wissen, wie es in uns aussieht? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Erzählerin diese kurzen Romans, sondern auch Generationen von Wissenschaftlern und Gelehrten. Mit Strahlen, Autopsien und Psychoanalysen versucht der Mensch seit Ewigkeiten zu verstehen, was in ihm vorgeht, physisch wie psychisch.
Die Erzählerin nimmt ihre zweite Schwangerschaft als Ausgangspunkt, um über all das nachzusinnen. Sight bewegt sich dabei irgendwo zwischen Roman und Essay und wird nur lose zusammengehalten von der Rahmenhandlung einer Schwangerschaft. Innerhalb dieser bewegt die Erzählerin sich zwischen verschiedenen Zeitebenen, zwischen Erlebtem und Gelesenem.
Sie befasst sich mit dem Tod ihrer Mutter, deren Krankheit sie als Erwachsene noch einmal zurück in das Haus ihrer Kindheit gezwungen hat, wo sie ihre Mutter gepflegt hat und eine Art Umkehr ihrer Rollen erlebte. Sie denkt aber auch viel über die Sommer bei ihrer Großmutter nach, die als Psychologin eine eigene Praxis in ihrem Wohnhaus unterhielt. Die Großmutter selbst hielt viel von Introspektion und Reflektion, führte jeden Tag Tagebuch und hielt auch ihre Enkelin dazu an, jedes ihrer Gefühle zu untersuchen und zu benennen. Und auch über sich selbst denkt sie natürlich nach, vor allem über die zermürbenden Wochen, in denen sie vor ihrer ersten Schwangerschaft versuchte zu entscheiden, ob sie ein Kind wollte oder nicht. Und nun ist sie zum zweiten Mal in der Lage, dass in ihr ein Kind ist, das sie nicht als Teil ihrer selbst begreift, ein ständiger aber nicht zu fassender Begleiter.
„I had tried, while walking sometimes through the city in the afternoons, to reach inwards and find some connection to my unborn child, but I was not one of those who felt able to talk to it, to feel intimacy, and for me the sense of being unwell, of being incapacitated, remained immediate while my child was a distant thing, floating in a space that was a kind of void to which I had no access.“
Dieser Blick nach innen bringt die Erzählerin dazu, sich mit anderen zu befassen, die diesen Drang auch hatten: Röntgen, der seine Frau mit einem Bild ihrer eigenen Knochen erschreckte, Freud, der beständig nach noch tieferen Bewusstseinsschichten bohrte, und der Maler Jan van Rymsdyk, der am liebsten Portraits malen wollte, sich am Ende aber einen Namen als Illustrator von Leicheneilen und Körperinnensichten machte. Gerade im 18. Jahrhundert kein besonders angenehmes Unterfangen.
Sight ist eine stille aber tiefe Meditation darüber, warum der Mensch so gerne wissen will, was er nicht sehen kann, warum er die äußeren Schichten entfernen will, auch wenn er ahnt, dass dahinter nichts Gutes und Schönes zu finden sein wird. So ist Röntgens Frau zutiefst erschüttert, als sie ihre Handknochen sieht, in denen sie ihre eigene Vergänglichkeit erkennt. Und auch die Erzählerin ist nicht so begeistert von Innenansichten ihrer selbst. Als man ihr beim Frauenarzt das erste Ultraschall-Bild ihres Babys mitgeben will, weiß sie gar nicht, was sie damit machen soll. Ablehnen will sie es nicht, herumzeigen aber erst recht nicht. Während Rymsdyks anatomische Zeichnungen sie begeistern, lässt die Ultraschall-Aufnahme sie ratlos zurück.
So subjektiv sich all das liest, gelingt es Greensight doch, eine gewisse Allgemeingültigkeit in den Roman zu bringen über das Streben, das Innere zu erkennen. Sight verbindet die sehr persönlichen Erfahrungen der Erzählerin mit der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Entdeckungen. Es ist ein sehr ruhiges Buch, das eher von inneren Monologen als Dialogen lebt, eher von der Reflektion als von der Handlung. Gerade zum Thema Elternschaft hat der Roman einige sehr interessante Ansätze zu bieten, ist aber auch darüber hinaus durchaus lesenswert.
Jessie Greengras: Sight. John Murray 2018. 198 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Andrea O’Brien ist unter dem Titel Was wir voneinander wissen bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Das Zitat stammt von S. 160.
Sight war 2018 auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.