Maria Brobergs Debüt-Roman Und Nilas sprang hat ein ganz grundlegendes Problem, das nicht im Text liegt, sondern vielmehr im Klappentext und eigentlich auch im Titel. Das Drumherum des Buchs suggeriert, es ginge um einen Jungen, der verschwindet, vermutlich ertrinkt, und als würde dann viele Jahre später in der Aufklärung seiner Verschwindens-Umstände diverse alte Geschichten aufgerollt und Schicksale verknüpft. Das ist nicht, was passiert und wer (zurecht) mit dieser Erwartung an den Roman herangeht, wird in jedem Fall enttäuscht werden.
Eigentlich handelt der Roman nämlich von einem kleinen Dorf in Nordschweden, in dem schon sehr viel mehr passiert, bevor es Nilas überhaupt gibt und in dem sich auch nach seinem Verschwinden die Welt noch dreht, denn Nilas spielt überhaupt keine so große Rolle. Er ist auch noch sehr jung, als er verschwindet und existiert bis dahin vor allem in der Abhängigkeit von seinen Eltern und seinem älteren Halbbruder Håkan. Im schwedischen Original bringt er es vermutlich deshalb auch gar nicht erst auf die Titelseite. Statt des Kriminalfalls, den man fast erwartet, erzählt Broberg eine Familiengeschichte, die weitaus weniger spektakulär, aber keinesfalls schlechter ist.

In einem abgelegenen Dorf in Nordschweden also spielt diese Geschichte, in der später auch Nilas auftauchen wird. Die Dorfgemeinschaft ist klein, aber nicht unbedingt eng. Wer hier lebt, glaubt nicht an ein fröhliches Dorf-Idyll und hat vielleicht noch nicht einmal gehört, dass es das geben könnte. Die Rollen sind klar verteilt: Die Frauen bleiben zu Hause, kümmern sich um Haushalt, Vieh und Kinder, die Männer sind draußen unterwegs. Geld verdient man in dieser Gegend im Wald, beim Flößen oder mit Rentieren. Es ist eine karge und verschlossene Welt, in der Broberg ihren Roman ansiedelt, der sich vor allem auf Margaretas Familie konzentriert. Margareta ist weder zu Ehefrau noch zur Mutter gemacht und doch wird sie beides. Erst gemeinsam mit dem viel älterern Hebbe, dann mit Lars, der als Same Anfeindungen und Spott ausgesetzt ist. Bei all dem gehört ihr Herz und ihre Leidenschaft aber Assar, mit dem sie leider niemals zusammen leben kann. Über Jahre zieht sich ihre so heimliche wie leidenschaftliche Affäre, die keine von beiden glücklich macht. Darunter leidet auch ihr Sohn Håkan, der nicht nur seinen geliebten Vater Hebbe, sondern auch die Aufmerksamkeit seiner Mutter verliert.
„Als hätte jemand eine Glasglocke über die Bucht, das Haus, ja das ganze Dorf gestülpt, worin die Zeit mal rückwärts geflossen war, mal stillgestanden hatte, saugend und suckelnd wie die Rückwasser im Fluss.“
Broberg schreibt einen Roman über eine sehr spezielle Gesellschaft, die auf den ersten Blick einfach und genügsam wirkt, aber komplexer und hungriger wird, je näher man sie betrachtet. Ihr Stil ist sehr zurückhaltend und im schwedischen Original wohl sehr an der gesprochenen Sprache des Norrland orientiert. Die findet in der deutschen Übersetzung ihren Widerhall in Ausdrücken, die seltsam wirken und in einem Dialekt, der sehr fremd erscheint und es natürlich auch ist. Die dargestellte Gesellschaft rückt damit noch weiter ab, wirkt noch mehr, als sei sie aus Zeit und Raum gefallen. Der Roman beginnt in den 1960ern, liest sich mitunter aber, als sei alles vor hunderten von Jahren passiert. Das hängt allerdings auch mit der geschilderten Lebensweise zusammen.
Familiäre Verstrickungen, Liebe und Betrug, Freundschaft und Verrat, ein Rassismus, den man nicht erwartet hätte – Brobergs Roman hat Tiefgang und ist komplex arrangiert. Es ist wirklich schade, dass man bei all dem eigentlich nur darauf wartet, dass Nilas endlich springt, dass er endlich verschwindet und wiedergefunden werden kann. Er springt auch tatsächlich, so viel sei verraten, allerdings erst auf der letzten Seite. Dass der komplette vorhergehende Roman allein durch den Titel auf einen Prolog reduziert wird, der irgendwann dorthin führt, ist sehr schade.
tl;dr: Ein Roman, den man am besten ohne Schutzumschlag liest: Titel, Klappentext und Titelbild lassen einen Roman vermuten, den es hier nicht gibt. Brobergs Debüt ist eine Geschichte von Freundschaft, Leidenschaft und Verrat, die die ganze Zeit gegen die Prophezeiung im Titel kämpfen muss – und nur verlieren kann. Es lohnt sich, beim Lesen nicht auf Nilas und erst Recht nicht auf seinen Sprung zu warten.
Maria Broberg: Und Nilas sprang. Nagel & Kimche 2021, 266 Seiten. Aus dem Schwedischen übersetzt von Hedwig M. Binder. Originalausgabe unter dem Titel Backvatten 2020 bei Nordstedts.
Das Zitat stammt von S. 128.
Ich bin sehr gespannt auf diesen Roman, nun umso mehr nach Deiner wunderbaren Besprechung, die einiges geraderückt- Viele Grüße
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