In einem abgelegenen russischen Dorf, in etwa zur Zeit der Revolution, hat der alte Ilja sich einen Ruf als mächtiger Seher erworben. Mit Hilfe eines mysteriösen Röhrchens kann er das Wetter voraussagen. In einem Dorf, das ausschließlich von der Landwirtschaft lebt, und in dem deshalb wirklich alles vom Wetter abhängt, ist das eine wertvolle Gabe. Doch nicht alle wollen dem fortschrittlichen Röhrchen glauben. Die Traditionsbewussteren hören lieber auf Pjotr, der mit den Flussgeistern reden kann und ihnen alle Geheimnisse entlockt.

Doch das sind nicht die einzigen Wege, in die Zukunft zu blicken: Als Iljas Frau Inna beim Kochen ein Messer herunterfällt, weiß sie, dass bald ein Mann zu Besuch kommen wird. Nun ist bald relativ und es dauert noch eine ganze Weile, aber dann bewahrheitet sich ihre weise Voraussicht, als Wadik im Dorf auftaucht. Er ist ein Fremder, abgemagert, ohne Schuhe und in einer abgewetzten Offiziersuniform. Auch er redet von der Zukunft und einer neuen Zeit und verlangt, dass in Iljas Haus die Ikonen abgehängt werden. Trotz seiner rätselhaften Herkunft hält Ilja viel von ihm. Lesen kann Wadik zwar auch nicht, aber trotzdem er kennt die Bücher der großen Männer und weiß, was darin steht.
Marfutova schildert ein russisches Dorf vor etwa hundert Jahren, das aber auch für damalige Verhältnisse völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Der Weg in die nächste Kreisstadt ist möglich, aber mühsam und die Dorfbewohner*innen nehmen in nur auf sich, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt. Mit der dortigen Autorität kommt man ohnehin nicht so gut zurecht. Die Grenze ihrer Welt ist der Fluss, der am Dorf vorbei zieht und den die meisten nie überquert haben. Die jungen Männer aus dem Dorf sind im Krieg, man weiß aber nicht, in welchem genau (gegen die Japaner, munkelt man) und ob er überhaupt noch andauert. Der Realität kann das Dorf trotzdem nicht entgehen. Sie kommt mit Mitja und Kostja ins Dorf, die von neuen Ideen reden, alles anders machen wollen und Iljas Speisekammer leeren. Sie behaupten gar, den Zaren gäbe es nicht mehr, das Land sei jetzt ein anderes. Mit den Ikonen, deren Abschaffung Mitja und Kostja noch vehementer fordern als Wadik, verschwinden auch Leute aus dem Dorf. Die neue Zeit ist nicht für alle.
„Diese Landschaft ist eine Landschaft der Redensarten und Geschichten, die sich vor einem ausbreiten, sich bis zur Unübersichtlichkeit ausfalten und in Nebensträngen verlieren. Eine Landschaft voller Weisheiten, mehr aus Gewohnheit als aus Tradition, mehr aus Intuition als aus sonst einer Erwägung.“
Der Roman vermischt historische Ereignisse mit uralten Märchen und Aberglauben, völlige Abgeschiedenheit mit großer Schläue. Die Menschen im Dorf können weder lesen noch schreiben und von der Welt gesehen haben sie fast nichts. Sie sind aber auch keine hilflosen Hinterwäldler, die staunend das Treiben der Mächtigen bestaunen. Sie haben sich eingerichtet und das sehr gut. Man hat keine Zweifel daran, dass es weitergehen wird mit diesem Dorf, auch wenn die Zukunft ganz anderes sein wird.
Marfutova hat einen sehr eigenen Stil für ihren Debüt-Roman gewählt. Er ist leicht, aber nicht naiv, er trägt die Geschichte und vor allem betont er das Vage, das Schwebende des ganzen Romans. Ein wenig unwirklich wirkt die Geschichte die ganze Zeit, unscharf und irritierend wie das Titelbild. Anders aber hätte dieser Dorfroman auch nicht erzählt werden können. Stil und Setting gehören hier untrennbar zueinander. Der Himmel hundert Jahren liest sich leicht und schlüssig und gerade für einen Erstling überzeugend. Allerdings bleibt durch die Unschärfe auch eine Distanz zu Dorf und Geschehen. So überzeugend der Stil auch ist – von der Handlung wird, fürchte ich, nicht viel hängenbleiben.
tl;dr: Marfutovas Debüt-Roman zeichnet sich durch einen sehr eigenen Stil aus. Das Porträt der Dorfgemeinschaft gelingt ebenso wie die Darstellung der unsicheren Zeiten, in denen sich eine neue Denkweise durchzusetzen beginnt. Allerdings bleibt am Ende wenig Nachhall.
Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren. Rowohlt 2021. 183 Seiten.
Das Zitat stammt von S. 54.
Schade… Das Buch gab es bei Netgalley & ich hatte überlegt es anzufragen, es dann aber gelassen. Klingt ziemlich überzeugend für mich. Warum bleibt wenig Nachhall? Meiner Erfahrung nach bleibt von Sprach-/Atmosphärefokussierten Büchern sehr viel mehr als von den Handlungszentrierten, die man ja doch selten öfter als einmal lesen will… Der Roman hat auch noch die Kürze für sich & wenn „Stil und Setting gehören … untrennbar zueinander [gehören]“ scheint mir hier relativ viel Potential für etwas Bleibendes gegeben?
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Das ist überhaupt kein schlechtes Buch! Ich kenne viele Menschen, die es gerne und mit Begeisterung gelesen haben. Ich musste es von heute auf morgen haben und alle Buchhändler*innen, mit denen ich deshalb telefoniert habe, fanden es ganz toll – am Lager hatte es trotzdem nur eine. Ich glaube aber, das Buch kommt noch als Empfehlungstitel hinterher, wenn denn rechtzeitig wieder in Buchhandlungen empfohlen werden kann. Ohne das wird das Buch es schwer zu haben. Ich glaube auch, mit dem Cover hat man ihm keinen Gefallen getan.
Ich habe es an einem Tag durchgelesen und das gerne. Trotzdem ging es mir so, dass ich schon wenige Tage später kaum noch etwas zu dem Buch zu sagen wusste. Nun bleibt natürlich die Frage, ob dennoch etwas bleibt, und sei es nur eine Erinnerung an die Atmosphäre. So geht es mir z. B. bei „Baba Dunjas letzte Liebe“, an das ich mich von diesem Roman erinnert gefühlt habe, ohne dass ich genau sagen könnte weshalb. Außer natürlich der offensichtlichen Gemeinsamkeit, dass beide Büchern in kleinen Dörfern in Osteuropa spielen und sehr eigene Charaktere haben. Auch da kann ich zur Handlung nichts mehr sagen, habe aber vage positive Erinnerungen daran. Ob das hier auch so sein wird, darüber müssen wir in drei Jahren nochmal reden.
Aber: solltest du es doch noch in die Hände bekommen, lies es! Deine Zeit wird nicht verschwendet sein!
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Ich spekuliere erstmal auf unsre Stadtbib. Was das nächste Mal Geld ausgeben betrifft, hatte ich mir u.a. vorgenommen, mir endlich mal selbst ein paar Texte von Buchi und Ama Ata Aidoo zuzulegen. Und es gibt zwei (!) neue Mootoo-Romane…
Aber generell glaube ich ein Text wie der, den du beschreibst, haben ein großes Potential für „Dauer“, selbst wenn es auch hier nur einer von 10 starken schafft. Weil sie als etwas besonderes weiterempfohlen werden, weil sie eben dieses Gefühl hinterlassen, wenn die Handlung schon fast vergessen ist, weshalb man zurückkehren muss usw. Ich hatte eigentlich genau deshalb mit dem Rezensieren angefangen, weil ich gemerkt habe, wie schnell ich Handlungen vergesse und mir das als Gedankenstütze zu Plot & Stärken und Schwächen eines Textes geholfen hat. Aber wenn die Handlung von kA, „Die Akte“ weg ist, ist sie weg & ich will trotzdem das Buch nicht wieder lesen… anders zB bei „West“, um ein neueres Beispiel zu nehmen…
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