Jakob Beer, Kind polnischer Juden, ist im Alter von sieben noch so klein und schmächtig, dass er sich problemlos in einem Schrank verstecken kann. Von dort aus wird er Zeuge, wie seine Eltern von Wehrmachts-Soldaten ermordet werden und seine ältere Schwester Bella verschleppt wird. Tagelang stolpert er durch den Wald, bis er Athos in die Arme läuft, einem griechischen Archäologen, der das prähistorische Dorf Biskupin ausgräbt. Er wird sein Retter und Ziehvater. Jakob wächst bei Athos auf der Insel Zakynthos auf, lernt Griechisch, Englisch und die Grundlagen der Geographie und hofft Jahr um Jahr, irgendwo eine Spur seiner Schwester zu finden, die vielleicht doch überlebt haben könnte.
„While I was living with Athos on Zakynthos, learning Greek and English, learning geology, geography, and poetry, Jews were filling the corners and crakcs of Europe, every available space. They buried themselves in strange graves, any space that would fir their bodies, absorbing more room than war allotted them in the world.“
Auch in späteren Jahren, bis weit in sein Erwachsenenalter hinein, will Jakob sich kaum an die Jahre seiner Kindheit erinnern, an die Fassungslosigkeit und die Verzweiflung seiner Eltern. Lieber stürzt er sich in die Geschichte, befasst sich mit lange verschwunden Kulturen, als die eigene Vergangenheit anzurühren. Er findet Ausdruck und Trost in der Poesie und wird ein anerkannter und bekannter Lyriker. Doch seine Vergangenheit kommt ihm immer wieder dazwischen, die nicht bewältigbare Trauer um seine verlorene Schwester zerstört sogar eine langjährige Beziehung.
Der zweite Teil des Romans ist Ben gewidmet, einem Fan von Jakobs Gedichten, der ihn aber höchstens flüchtig kennt. Er ist bedeutend jünger als Jakob und das Kind von Holocaust-Überlebenden, die versuchen, in Kanada eine neue Heimat zu finden. Auch er kämpft mit der schrecklichen Vergangenheit seiner Familie, findet aber einen ganz anderen Umgang damit als Jakob. Er sucht seine Erklärungen und seinen Halt im Wetter und wie es den Lauf der Geschichte beeinflusst hat.
Dass Anne Michaels selbst vor allem Lyrikerin ist, merkt man dem sprachlich sehr gelungenen Roman an. Michaels gelingt es, Sätzen eine poetischen Unterton zu geben, ohne ins Pathetische abzudriften. Ihre Stärke ist die Schilderung von Stimmungen, Beziehungen und Szenen. Es ist die Sprache, die den Roman trägt, der sich ansonsten vor allem mit dem Innenleben der Charaktere befasst. Die Handlung ist reduziert, dabei aber tragisch, wenn auch auf eine sehr leise Weise. Die Charaktere tragen ihr Leiden, das erfahrene Unrecht und die Verletzungen als etwas unvermeidbares, das sich nur zusammen tragen lässt, von dem die Welt aber nichts wissen will. Mit der zweiten Geschichte um Ben eröffnet Michaels eine weitere Ebene, die sich nicht gleich nahtlos in die erste fügen will und es dauert ein wenig, bis der Roman über diesen recht späten Bruch hinweg kommt.
Man darf von Fugitive Pieces keinen linear erzählten Roman über die Schrecken des Holocaust erwarten. Davon erzählt der Roman natürlich, das aber auf eine sehr subtile, feingliedrige Art und Weise, ohne dabei das Thema weichzuspülen. Und sprachlich überzeugt der Roman sowieso.
Anne Michaels: Fugitive Pieces. Bloomsbury Publishing 1998. 294 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Beatrice Howeg ist unter dem Titel Fluchtstücke bei Rowohlt erschienen und aktuell noch als eBook beim berlin Verlag lieferbar.
Das Zitat stammt von S. 45.
1997 gewann Michaels mit diesem Roman den zweiten Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Liebe Marion, wie schön, dass ich hier auf Deinem Blog diesem wunderbaren Buch wieder begegne, das für mich eine ganz besondere Bedeutung hat. Ich habe vor vielen, vielen Jahren meine Englisch-Facharbeit am Gymnasium über genau diesen Roman geschrieben. Auch ich war damals vor allem von der wunderschönen, poetischen Sprache fasziniert. 🙂 Dass Du mich nach so langer Zeit wieder an dieses tolle Werk erinnerst, freut mich sehr. Herzliche Grüße! Barbara
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Das freut mich aber! Ich fand den Roman wirklich sehr beeindruckend. Auch für eine Facharbeit gibt es da wahrscheinlich einiges rauszuholen.
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Danke für die schöne RezessionNils
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