Versklavt, verzweifelt, vergessen – „The Silence of the Girls“ von Pat Barker

Als die Kämpfe um Lyrnessus im trojanischen Krieg verzweifelter werden und niemand weiß, wie lange die Stadt noch gegen Achilles und seine Armee verteidigt werden kann, flüchten die Frauen sich mit ihren Kindern in die Zitadelle. Unter ihnen ist auch Briseis, gerade 19 Jahre alt, und Frau des Königssohns Myrnes. Vom Dach der Festung aus beobachten die Frauen, was unter ihnen geschieht und wissen, wie aussichtslos ihre Lage ist. Es ist Usus der siegreichen Griechen, jeden männlichen Einwohner zu töten, ebenso wie schwangere Frauen, die möglicherweise noch männliche Nachfolger in sich tragen. Die übrigen Frauen werden verschleppt, werden Kriegsbeute, Handelsware und Eigentum ausgezeichneter Kämpfer. Einige wählen lieber den Tod und stürzen sich vom Dach der Zitadelle. Briseis harrt aus.

Wenige Stunden später fällt im Lager der Griechen Achilles Wahl auf sie. Sie soll sein Lohn für seine Tapferkeit und seine Stärke sein und wird zu seiner persönlichen Sklavin. Damit ist sie eine der wenigen Frauen Trojas, deren Namen überhaupt im Mythos um Troja auftauchen. Die meisten anderen werden namenlose Opfer eines männerdominierten Kampfes. Ihren Status als Mensch jedoch hat sie verloren. Zwar gilt sie als Achilles Lieblingssklavin, doch dadurch wird sie nicht weniger ein Objekt. Nacht für Nacht wird sie von ihrem Besitzer vergewaltigt, so wie alle anderen Sklavinnen auch. Der einzige Ausweg für Briseis ist eine Hochzeit mit Achilles, doch die Chancen stehen schlecht. Zudem scheint ihr eine Ehe mit dem Mörder ihres Mannes und ihrer Brüder wenig erstrebenswert. Dennoch ist sie Achilles Gefährten Patroclus dankbar, dass er ein gutes Wort für sie einlegen will. Es ist ihre größte Sorge, dass Achilles das Interesse an ihr verlieren könnte oder sie ihn gegen sich aufbringt. Würde er sie verstoßen, müsste sie ihr Dasein als gewöhnliche Sklavin fristen so wie alle, die zu alt, zu widerspenstig oder zu unattraktiv für die Helden Griechenlands sind. Sie schlafen im Freien, zusammengekauert unter den Hütten, und erledigen niedrigste Aufgaben. Einen Ausweg gibt es für sie nicht mehr. Selbst von den höheren Sklavinnen werden sie kaum beachtet. Briseis und die anderen bleiben unter sich, in den Frauenquartieren, an den Webstühlen oder im Feldlazarett, wo sie zur Pflege der verwundeten Krieger eingesetzt werden. Unter ihnen aber entstehen echte Freundschaften und die Solidarität ist groß. Manchmal vergessen sie beinahe, in welcher Lage sie sind, und teilen unbeschwerte Momente.

„‚Silence becomes a woman.‘ Every woman I’ve ever known was brought up on that saying.“

S. 246

Doch diese Momente sind selten und kurz. Schneller als ihnen lieb ist, landen die Frauen wieder in ihrer neuen Lebensrealität, in einer reinen Männerwelt, in der sie als Frauen noch weniger zu melden haben als zuvor in Troja. Und schon dort war ihr Situation weit weg von Selbstbestimmung. Nur unter ihresgleichen waren sie mehr als „Tochter von“ und „Frau von“. Selbst Briseis Name zeichnet sie als Patronym nur als Tochter von Briseus aus. In der Geschichte um den Trojanischen Krieg werden diese Frauen nur am Rande auftauchen, in ihrer Rolle als Sklavinnen, nicht als Menschen. Sie werden zum Schweigen gebracht.

Pat Barker versucht nun, diese Frauen in den Vordergrund ihrer Geschichte und macht deutlich, in welch prekärer Lage sie sich befinden, aber auch, wieviel Arbeit sie für den Sieg gegen Troja leisten. Ohne heilkundige Pflegerinnen, die im Lazarett Verwundete pflegten, die Toten salbten und die Hausarbeit erledigten, wären die Helden der Sage ziemlich aufgeschmissen. Dass die Frauen die Arbeit nur höchst widerwillig erledigen, versteht sich von selbst. Nicht nur haben sie allen Grund, ihre Besitzer persönlich zu verabscheuen, sie unterstützen auch noch den Feind im Kampf um Troja.

Barker muss sich für ihren Stoff auf die Ilias stützen. Da dort die Frauen kaum Erwähnung finden, hat sie sehr wenig Material, aber eben auch nur sehr wenige Vorgaben. Bis auf die Namen und vielleicht den gesellschaftlichen Rang kann und muss sie alles erfinden. Längst nicht aus allen Figuren werden dabei schlüssige, individuelle Charaktere. So bleibt Briseis Beziehung zu den meisten anderen Frauen recht oberflächlich und die postulierte Freundschaft ist nicht immer aus dem Geschehen im Roman zu erklären. Briseis ist stark auf Achilles und Patroclus fixiert, was natürlich in der Natur ihrer Position liegt. Doch mit ihr geht auch der Fokus immer wieder auf die beiden Männer, ihr Verhalten und ihre Emotionen. Die anderen Frauen, um die es ja eigentlich gehen sollte, wenn man mal an das Konzept des Romans denkt, geraten dabei erneut ins Hintertreffen. Über ihr Leben vor dem Krieg erfährt man nichts, über ihr Innenleben wenig. Man kann nur annehmen, dass es dem von Briseis gleicht. Auch wenn der Roman stilistisch gelungen ist und eine dankenswert unprätentiöse Sprache hat, kann diese Neuerzählung nicht völlig überzeugen. Auch, wenn wenigstens eine Frau umfangreich zu Wort kommt, hüllen die anderen sich doch weitestgehend in Schweigen. Das geht noch lauter, girls!


tl;dr: Barker versucht, den Frauen der Ilias eine Stimme zu geben. Bei einer, Briseis, gelingt ihr das auch ganz gut, die anderen bleiben allerdings weitestgehend im Hintergrund zu Gunsten zweier Männer: Achilles und Patroclus. Das Schweigen wird thematisiert und dadurch hörbar, gebrochen aber wird es nicht.


Pat Barker: The Silence of the Girls. Doubleday 2018, 304 Seiten. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Die Stille der Frauen bei Lago erschienen.

Baker war 2019 mit diesem Roman auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.