In den letzten Monaten ihres Lebens, im Sommer 1975, reiste Hannah Arendt noch einmal ins Tessin. Diesen Sommer verbrachte sie in Tegna, besuchte von dort aus Freunde und selbstverständlich schrieb sie auch. Diese Reise nimmt Hildegard Keller als Ausgangspunkt, um die große politische Theoretikerin auf ihr Leben zurückblicken zu lassen, auf ihre Flucht in die USA, ihr Freundschaften mit den intellektuellen Größen ihrer Zeit und den Eichmann-Prozess, der ihr nicht immer willkommenen Ruhm einbrachte.
Keller wagt sich mit Was wir scheinen an eine der Großen des 20. Jahrhunderts und an eine Frau, die mit ihrem Werk und ihren Aussagen sehr polarisiert hat. Besonders ihr bekanntestes Werk Eichmann in Jerusalem sorgte für lang anhaltende Kontroversen und führt noch immer dazu. Bis heute werden immer wieder kritische Stimmen laut, die sich nicht selten auch am Untertitel Ein Bericht von der Banalität des Bösen stoßen. Von der Kritik blieb auch Arendts Privatleben nicht unberührt, aber auch ihr weiteres Schreiben nahm eine andere Wendung. Einige Freundschaften zerbrachen, oder wurden zumindest arg strapaziert. Zugleich aber bedeutete der Eichmann-Prozess großen Ruhm für die Theoretikerin, die sich einige Zeit vor Interview-Anfragen kaum retten konnte. Aus dieser Zeit stammt auch das berühmte Gespräch mit Günter Gaus, aus dem im Roman großzügig zitiert wird. Aber auch darüber hinaus kann Keller sich in ihrer Charakterisierung Arendts auf einen großen Fundus stützen.
„Briefe, und eben ganz besonders Schreibebriefe, in denen erinnert und nachgedacht und gefühlt wird, die waren nach `33 ihr Leben gewesen. Ohne Übertreibung ihr Leben.“
Arendt schrieb für ihr Leben gerne und täglich, sei es nun politische Theorie oder eben ihre mit Begeisterung geführte Korrespondenz mit Freunden und Freundinnen auf der ganzen Welt, mit Bekannten und Studierenden. Vieles, was Arendt im Roman in den Mund und in die Feder gelegt wird, entstammt eben jenen Quellen. Historisch akkurat ist der Roman dabei allerdings nicht und will es auch gar nicht sein. Was wir scheinen zeigt Hannah Arendt nicht primär in ihrer öffentlichen Rolle, sondern legt den Fokus auf ihr Privatleben und ihr übriges schriftstellerisches Werk.
Die Worte, die Hildegard Keller ihrer Protagonistin zuschreibt, sind geprägt von ihrer Geburt in Hannover, ihrer Kindheit in Königsberg und auch von langen Jahren in den USA. Hannah Arendt war es stets wichtig, ihre Muttersprache nicht zu verlieren und beharrte darauf, die Sprache sei ja nicht das, was verrückt geworden sei in Deutschland. Dennoch blieb sie natürlich nicht unbeeinflusst von ihrer sprachlichen Umgebung und verwendete englische Begriffe und Redewendungen, im Roman wie in Interviews. Trotz aller Verankerung in der Realität aber ist Hannah Arendt in diesem Roman eine Figur, die bewusst nicht strikt den Pfad ihrer Biographie entlang schreitet. Es ist eben trotz aller Fakten und fundierter Recherche keine Biographie, kein Nacherzählen von Leben und Werk, sondern der Versuch, darzustellen, was nach dem legendären Eichmann-Buch mit Arendt, mit ihrem Leben und nicht zuletzt mit ihrem Werk passierte. Ihre späteren Veröffentlichungen waren von Philosophie und politischer Theorie geprägt. Dass Arendt auch Dichterin war und sich an einer Fabel versuchte, die auch in diesen Roman eingebunden ist, ist weit weniger bekannt. Mit dem Bild vor Augen, dass man im allgemeinen von ihr hat, wundert es einen auch fast.
Die Protagonistin wirkt authentisch, ihre Worte und Taten begründet, auch wenn es etliche künstlerische Freiheiten gibt in diesem Roman. Arendt fällt doch nie aus der Rolle. Am Frühstückstisch in Tegna sitzend kann sie auf ein bewegtes Leben und ein beeindruckendes Werk zurückblickend. Ihr dabei zu folgen eröffnet nicht nur eine interessante Sichtweise auf Arendt als Person, sondern gibt auch Einblicke in ihr Schreiben und Denken, die es sich zu entdecken lohnt.
tl;dr: Was wir scheinen schildert Hannah Arendts Rückblick auf ihr Leben. Der Roman geht ins Private, ohne indiskret zu werden und lässt die große Denkerin nahbar werden. Bei aller künstlerischen Freiheit wirkt die Charakterisierung authentisch.
Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Eichborn 2021, 568 Seiten.
Das Zitat stammt von S. 549.
Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
Ein Gedanke zu “Ein Sommer im Tessin, ein Leben fürs Schreiben – „Was wir scheinen“ von Hildegard Keller”
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