Von ihren Taten zu singen – „Annette, ein Heldinnenepos“ von Anne Weber

Mit Annette, ein Heldinnenepos hat Anne Weber eine außergewöhnliche Hommage geschrieben, für die sie in diesem Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Anne Weber lernte Anne Beaumanoir, genannt Annette, vor wenigen Jahren bei einer Podiumsdiskussion kennen. Im Anschluss hatten die beiden Gelegenheit, sich näher kennenzulernen und Weber war beeindruckt von dem, was die inzwischen über 90jährige zu berichten hatte. So beeindruckt, dass sie beschloss, ein Buch darüber zu schreiben und nicht nur ein Buch, sondern gleich ein Heldinnenepos. Denn Weber sah in Beaumanoir nicht weniger als eine der ganz seltenen Gelegenheiten, eine echte Heldin kennenzulernen.

Annette Beaumanoir wurde 1923 in der Bretagne geboren, wo sie in recht einfachen aber glücklichen Verhältnissen aufwuchs. Nach der Schule begann sie eine Medizinstudium, zugleich aber ihre politische Karriere. In dieser Zeit wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei und mehr oder weniger zufällig Teil der Résistance. Den Widerstand stellte sie nie in Frage und betrachtete ihn als ihre Pflicht, auch später, als die Nazi-Okkupation beendet war. Im Auftrag der kommunistischen Partei, aber auch in eigener Mission half sie anderen Menschen im Untergrund, organisierte Fluchtwege und Unterkünfte und rettete jüdische Menschen vor dem sicheren Tod. Für letzteres wurde sie, gemeinsam mit ihren Eltern, in späteren Jahren als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien ihr Leben etwas ruhiger zu werden. Sie beendete ihr Studium, wurde Neurologin, heiratete und bekam drei Kinder. Doch das Unrecht nagte weiter an ihr und so engagierte sie sich für die Front de Libération, die für eine Unabhängigkeit Algeriens von der französischen Kolonialherrschaft kämpfte. Eine Verurteilung zu zehn Jahren Haft war die eine Folge, eine Flucht nach Algerien und jahrelange Trennung von ihren Kindern eine andere. Mittlerweile fast hundert Jahre alt, ist Beaumanoir noch immer als Rednerin und Zeitzeugin unterwegs und bemüht, ihre Überzeugungen weiterzutragen.

Geschildert wird dieses Leben in einer sehr besonderen Form, in epischer nämlich. Am Anfang ist das sehr gewöhnungsbedürftig*. Findet man aber erstmal hinein in diese nicht alltägliche Form, erkennt man schnell auch die Vorzüge. Weber gelingt es, das Genre weitaus weniger sperrig zu gestalten, als man es befürchten würde. Sie weiß sowohl seine Vorzüge und Möglichkeiten auszuschöpfen, als auch da einen Bruch einzufügen, wo der Vers sich fast zum Pathos aufschwingt. Das Spiel mit der vermeintlich sperrigen und getragenen Form gelingt Weber überzeugen. Der experimentelle Stil erlaubt dabei auch ein Zurücktreten, ein Anhalten, das in der Prosa nur schwer umsetzbar ist:

„Die Tür hat sich hinter den dreien längst geschlossen,
da steht er noch und möchte weinen weinen weinen,
und wir, wir stehen in der fernen Zeit und stehen
und finden keinen Satz und keinen Vers und keine
Zeile, die etwas andres möchte als zu stehen mit ihm
und zu weinen.“

Annette geht über das hinaus, was eine klassische Biographie leisten würde – die gibt es übrigens auch, verfasst von Beaumanoir selbst und in deutscher Übersetzung unter dem Titel Wir wollten das Leben ändern in zwei Bänden bei Contra-Bass erschienen. Das Buch ist eine Würdigung einer besonderen Persönlichkeit und eine Verneigung vor der bedingungslosen Humanität, vor einem Leben, in dem das Leben der anderen immer eine größere Rolle spielte als das eigene.

Das Epos hält die Lesenden dabei weit mehr auf Distanz, als die meisten Biographien es tun. Auf psychologische Erklärungsversuche ihrer Taten können Heldinnen verzichten, sie folgen alleine ihrer Bestimmung und die ist im Falle Beaumanoirs der Kampf gegen das Unrecht und für die Schwächeren. Dabei bleiben durchaus auch moralische und ethische Fragen offen, die im Buch bewusst in der Schwebe bleiben.


tl;dr: Eine interessante Biographie (und mehr als das) in ungewohnter Form. Auch wenn der Einstieg schwerfällt – dranbleiben lohnt sich!


Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz 2020. 207 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 39.

* Wer sehen möchte, ob es zu gewöhnungsbedürftig ist, hat in einer umfangreichen Leseprobe die Gelegenheit dazu.

3 Gedanken zu “Von ihren Taten zu singen – „Annette, ein Heldinnenepos“ von Anne Weber

    • Marion 17. November 2020 / 20:09

      Oh, danke für den Hinweis! Da höre ich auf jeden Fall rein.

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