Alfred White ist Parkaufseher in London Hillesden. Früher hatte er noch fünf Kollegen, doch nach etlichen Sparmaßnahmen ist er der letzte, der dort noch weit nach Renteneintrittsalter treu seine Runden dreht. Nicht einen Tag hat er gefehlt. Umso schockierter sind alle, als er während des Dienstes bewusstlos zusammenbricht und ins Krankenhaus eingeliefert werden muss.
Der plötzliche Fall des Vaters bringt die gesamte Familie am Krankenbett zusammen. Seine Frau May steht ihm ohnehin zur Seite, ebenso sein Sohn Dirk, der auch im Erwachsenenalter noch zu Hause wohnt. Aber auch Tochter Shirley, die sich mit dem Vater vor Jahren zerstritten hat und sogar Darren, der als erfolgreicher Journalist in den USA lebt und für Familie nur wenig Zeit findet.
Bei den Whites ist der Familienname Programm: sie alle sind weiß und zumindest Alfred und Dirk sind auch noch lupenreine Rassisten. Vater und Sohn sehen überall lauter nicht-Weiße, die im Park Regeln übertreten und die englischen Geschäfte mittels Billig-Konkurrenz zugrunde richten wollen. Das führte auch zum Bruch mit Shirley, deren erster Mann Ghanaer war und die nun mit einem Jamaicaner zusammenlebt, statt sich einen netten englischen Mann zu suchen. Während Alfreds Rassismus sich in Wut und Schimpftiraden erschöpft, wird Dirk zum gewaltbereiten Skinhead mit ganz klassischem Werdegang: weil er als Nesthäkchen immer zurückstecken musste und zu Hause auch noch Gewalt erfahren hat, wendet er sich in seiner Wut nun gegen andere, die in der Hackordnung noch weiter unten stehen als er armes Würstchen. Das driftet ganz schön oft in mittelharte Klischees ab.
„why did Shirley have to go the whole hog? Did she have to choose one as black as that?“
Auch die anderen Figuren kommen oft nicht über Stereotype hinaus. Besonders Darrens dritte Frau trifft es hart. Sie ist zwar Psychologin und nicht ganz doof, darf aber fast nur in Pink und Parfümwolke durchs Bild stöckeln. Im Kern ist The White Family ein ganz solider und klassisch konstruierter Familienroman. Der gefallene Patriarch hat noch einmal Gelegenheit, mit all den Fehlern aufzuräumen, die ihm als Ehemann und Vater so passiert sind und auch seine Kinder können noch einmal ihre Kindheit und Jugend Revue passieren lassen. Der aufbrausende, sture und stolze Alfred kommt dabei selten gut weg. Der Ton ist trotzdem versöhnlich – was will man denn auch machen, wenn sich herausstellt, dass der brutale Familien-Despot das Krankenhaus vermutlich nicht mehr verlassen wird. Vor allem in der Schilderung der Beziehung von Alfred und May finden sich dabei einige sehr gelungene und berührende Szenen, wie auch in den gemeinsamen Erinnerungen der Geschwister.
Im Großen und Ganzen aber ist die Geschichte recht vorhersehbar. Selbst Dirks schnell fortschreitende Radikalisierung birgt wenige Überraschungen. Reichlich kitschig und überzogen gerät auch das Ende, das nicht nur die Familienmitglieder, sondern auch die Weißen und Schwarzen Bewohner des Londoner Vororts Hillesden in ihrer Menschlichkeit und ihrem Schmerz vereint und versöhnt. Gut vorstellbar, dass The White Family bei Erscheinen eine seltene und überraschende Thematisierung von Rassismus in der englischen Mittelschicht war. Diese Thematik aber hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten so weit fortbewegt, dass sie diesen Roman inzwischen hinter sich gelassen hat und ihn heute überholt und beinahe naiv erscheinen lässt.
tl;dr: The White Family ist ein Roman über dysfunktionale Familienstrukturen und Rassismus in der englischen Mittelschicht. Während ersteres für alle Zeiten gleich zu bleiben scheint, hat sich letzteres in den fast zwei Jahrzehnten seit Erscheinen so weit gewandelt, dass die Geschichte an diesen Punkten klischeehaft wirkt.
Maggie Gee: The White Family. Telegram 2008. 414 Seiten. Erstausgabe Saqi 2002. Eine deutsche Übersetzung ist nicht erschienen.
Das Zitat stammt von S. 74.
Maggie Gee war 2002 mit diesem Roman auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.