Shakespeares Tragödie um den König Lear ist vermutlich um etwa 1605 entstanden und gehört bis heute zu seinen meistgespielten Werken. Sie basiert auf dem sagenumwobenen König Lier, der in vorrömischer Zeit in England regiert haben soll und zu Shakespeares Zeit dank diverser Überlieferungen sehr bekannt und auch gerade sehr en vogue war.
Für die Reihe „The Hogarth Shakespeare“ hat Edward St Aubyn diese Tragödie in die Gegenwart übertragen. Statt eines Königsreichs vererbt der Patriarch in der Neuerzählung ein Medien-Imperium.
King Lear
Der alternde König Lear möchte abdanken und plant, sein Reich unter seinen drei Töchter Goneril, Regan und Cordelia aufzuteilen. Doch wer soll wieviel kriegen? Das will er davon abhängig machen, wer ihn am meisten liebt. Diese Frage also richtet er an seine drei Töchter. Während Goneril und Regan sich in Liebes- und Ehrfurchtsbekundungen überschlagen, sagt Cordelia nur, ihre Liebe kenne keine Worte. Sie liebe ihn eben so, wie eine Tochter ihren Vater liebt. Lear ist wenig beeindruckt von dieser Aussage, enterbt die ehrliche Cordelia und teilt sein Reich unter den Schleimerinnen Goneril und Regan auf. Während die beiden sich nebst ihren Gatten an ihre jeweiligen Höfe zurückziehen, geht Cordelia mit dem König von Frankreich von dannen, der sie auch ohne Erbteil heiraten will.
Der zweite Familienkonflikt, der sich in der Tragödie ereignet, ist der zwischen Gloucester und seinen beiden Söhnen, dem illegitimen Edmund und dem legitimen Edgar (nicht verwechseln!). Der intrigante Edmund behauptet Gloucester gegenüber, dass Edgar ihn töten will. Gloucester glaubt das und hat es nun seinerseits auf Edgar abgesehen. Edmund erzählt wiederum Edgar, dass Gloucester ihn (warum auch immer!) töten will und rät ihm zur Flucht. Edgar flieht in die Heide, wo er bald auf Lear treffen soll.

Goneril hat inzwischen die ganz besondere Ehre, dass ihr Vater nebst 100 Rittern ihren Hof heimsucht. Goneril gerät mit ihm in Streit darüber, ob er wirklich noch diese Gefolgschaft braucht und Lear kündigt im Zorn an, zukünftig bei der weniger undankbaren Regan logieren zu wollen. Regan ist allerdings ebenso undankbar und ist, gewarnt von ihrer Schwester, ganz zufällig nicht zu Hause, als Lear vor der Tür steht.
„Sisters, sisters, shame of ladies, sisters!“
Lear, nun obdachlos, irrt nur noch in der Begleitung seines Hofnarren und dem Earl of Kent, den er eigentlich auch schon mal verstoßen hat, der nun aber in Verkleidung zurückgekehrt ist, durch die Heide. Dort hält Lear auch seinen großen Monolog, in dem er mitten in der Heide Sturm und Regen anbrüllt und die Ungerechtigkeit der Welt und seiner Töchter beklagt. Als sie Zuflucht in einer Hütte suchen, treffen sie dort auf „Tom“, der in Wirklichkeit der als Bettler verkleidete Edgar ist.
Im Haus Gloucesters spielt sich derweil ein Drama ab. Gloucester wollte heimlich Cordelia helfen, die mit Truppen aus Frankreich ihrem Vater Lear zu Hilfe eilt. Edmund aber verrät seinen Plan an Regan und ihren Mann Cornwall, der Gloucester daraufhin beide Augen aussticht. Cornwall wird in diesem Kampf durch einen Ritter Gloucesters so schwer verwundet, dass er in der Folge stirbt. Gloucester wird aus seinem eigenen Schloss verbannt, irrt blind über die Heide und trifft dort auf „Tom“, den er nicht als Edgar erkennt und den er bittet, ihn nach Dover zu führen, wo er sich von den weißen Klippen stürzen will. Edgar führt den Erblindeten stattdessen auf eine kleine Anhöhe, behauptet, es seien die Klippen von Dover und lässt ihn die paar Zentimeter springen. Sein Überleben verkauft er ihm als großes Wunder.
Unterdessen irrt Lear durch die Heide, Blumen im Haar und wird mit jedem Schritt verrückter. Erst als er mit seiner zurückgekehrten Tochter Cordelia wiedervereint wird, kommt er langsam wieder zu Sinnen und bereut, den falschen Töchtern vertraut zu haben. Die Schlacht der Truppen Cordelias gegen die vereinten Heeren von Goneril und Regan allerdings setzt dem Glück ein jähes Ende. Cordelias Truppen werden geschlagen, sie und ihr Vater auf Weisung von Edmund verhaftet.
Und weil es eine Shakespeare-Tragödie ist, geht jetzt alles Schlag auf Schlag: weil beide Schwestern heimlich in Edmund verliebt sind, vergiftet Goneril Regan, die stirbt. Bei einem Duell ersticht Edgar Edmund. Weil das so traurig ist, ersticht sich Goneril selbst. Edmund hat vor seinem Tod angeordnet, dass die Gefangenen getötet werden sollen und für den Hofnarr und Cordelia kommt jede Hilfe zu spät. Lear, mit seiner toten Tochter im Arm auf die Bühne wankend, betrauert erneut die Ungerechtigkeit der Welt und sein fehlendes Urteilsvermögen. Nur er selbst, Gonerils Witwer Albany und Edgar überleben diese Tragödie, die Zukunft von Lears einst großem Reich ist damit völlig ungewiss.
Übertragen ins 20. Jahrhundert sieht diese vorrömische Tragödie dann so aus:
Dunbar
In der Hogarth-Version lässt St Aubyn den alternden Henry Dunbar ein weltweit führendes Medien-Imperium vererben. Megan und Abigail heißen die beiden bösen Töchter in diesem Roman und sie sollen fortan die Geschäfte führen. Florence, die netteste der drei, geht leer aus. Sie hat sich mit ihrem Vater zerstritten, weil sie nicht an seinem Konzern und Profit um jeden Preis interessiert ist. Gemeinsam mit Dr. Bob, den Megan und Abigail sexuell gefügsam gemacht haben, gelingt es ihnen, Dunbar medikamentös ruhigzustellen und in ein Sanatorium nach England zu verfrachten, wo er ihnen möglichst wenig im Weg ist. Sein einziger Freund dort ist sein moderner Hofnarr, der alkoholabhängige Komiker Peter Walker, der in der Klinik seine Sucht in den Griff kriegen soll. Mit Hilfe genau dieses Komikers bricht Dunbar nun aus dem Sanatorium aus und irrt durch die Landschaft, ständig in Gefahr, an Unterkühlung zu sterben.
Alle drei Töchter machen sich auf die Suche nach ihm, die schnell zum Wettlauf gerät. Megan und Abigail wollen den alten Dunbar möglichst schnell wieder in ein sicheres Sanatorium bringen, wo er nicht mehr im Weg herumstolpert. Florence hingegen findet das unethisch und möchte ihn lieber mit nach Hause nehmen. Eigene Truppen schickt sie nicht und braucht sie nicht: die drohende Zerschlagung des Königreichs steht in Form einer feindlichen Übernahme ins Haus. Dunbar steht derweil eine Krise durch, die sein königliches Vorbild schon den Verstand gekostet hat. Er wollte zwar abdanken, wollte zwar, dass seine Töchter fortführen, was er aufgebaut hat, den Machtentzug aber verkraftet er nicht. Er erschüttert ihn, wie seine Töchter, die ihm so viel zu verdanken haben, sich nun so brutal gegen ihn wenden.
„Dunbar would go down fighting – as long as he could go on being Dunbar.“
Wie auch die übrigen Teile der Hogarth Shakespeare-Reihe gerät die Geschichte auf dem Weg ins 21. Jahrhundert ein wenig ins Schleudern. In diesem Fall verliert sie sogar einige nicht ganz unwichtige Charaktere, wie beispielsweise Gloucester. Damit entfällt nicht nur der zweite familiäre Konflikt, sondern auch eine der beeindruckendsten Szenen im Stück, Gloucesters Blendung. Sein Sohn Edmund immerhin ist im Fiesling Dr. Bob noch erkennbar. Die Figuren, auch von Shakespeare oft recht schablonenhaft charakterisiert, gewinnen in Dunbar nicht an Tiefe. Abigail und Megan legen gegenüber ihren Vorbildern höchstens noch eine Schippe Perversion und Gemeinheit drauf und Florence ist noch ein bisschen öder und passiver als Cordelia. Immerhin hat sie aber einen eigenen Hubschrauber. Das Grundgerüst des Romans bringt St Aubyn aber überzeugend in unsere Zeit herüber und an etlichen Zitaten und Details erkennt man deutlich seine Anleihen. Ohne diesen Hintergrund aber ist Dunbar einfach ein Wirtschaftsthriller, der seinen Höhepunkt auf dem modernen Schlachtfeld einer Vorstandssitzung findet und mich nicht über die ganze Länge fesseln konnte.
William Shakespeare: „King Lear“. Gelesen in der Ausgabe The Complete Works of William Shakespeare. Ed. John Dover Wilson. Cambridge University Press 1984. pp. 868 – 900.
Außerdem gehört in der BBC-Reihe „The Shakespeare Sessions„. In dieser sehr gut gemachten Reihe sind Inszenierungen verschiedener Shakespeare-Stücke sowie Features zu Hintergründen erschienen. Alle Folgen können auf der Seite der BBC oder über Podcast- bzw. Streaming-Dienste angehört werden.
Das Zitat stammt aus Akt 4, Szene 3.
Edward St Aubyn: Dunbar. Gelesen in der Ausgabe Vintage 2018. 224 Seiten. Erstausgabe 2017 bei Hogarth. Eine deutsche Übersetzung von Nikolaus Hansen ist unter dem Titel Dunbar und seine Töchter bei Knaus erschienen.
Das Zitat stammt von S. 92.
Wie sieht dein internes Ranking aller gelesenen Hogarth Titel aus? Und warum ist „Vinegar Girl“ ganz unten?
LikeLike
Ha! Tough question. Ich fand die alle nicht so geil. Aktuell wäre die Rangliste vielleicht so:
1. Hag-Seed (gute Adaption, schlecht für einen Atwood)
2. The Gap of Time (gute Adaption, insgesamt recht kitschig)
3. New Boy (auch gute Adaption, aber halt Pausenhof-Action)
4. Shylock Is My Name (irgendwie ganz witzig, läuf sich aber tot)
5. Dunbar (s. o.)
6. Vinegar Girl (anstrengend, ziemlich weit weg vom Grundstoff und schlechter als „10 Dinge die ich an dir hasse“. Auch weniger Skatepunk.)
LikeLike
„Immerhin hat sie aber einen eigenen Hubschrauber.“ finde ich gut. 🙂
Mit „Der beste Roman des Jahres“ hat mich Edward St Aubyn schon neugierig gemacht, denn auch, wenn es seine Schwächen hatte, so war es zumindest stilistisch aus meiner Sicht großes Kino.
Insofern würde mich „Dunbar“ schon neugierig machen, da ich aber sehr zu meinem Leidwesen eingestehen muss, niemals Shakespeare gelesen zu haben, und mich die Zusammenfassung des Originals angesichts fünf Toter in zehn Zeilen schon leicht überfordert zurücklässt, denke ich lieber nochmal genauer drüber nach … 🙂
LikeGefällt 2 Personen
Am Ende explodiert immer alles in Shakespeare-Dramen, da verliert man schonmal den Überblick. Ich kann für sowas immer „Sommers Weltliteratur to go“ empfehlen, solltest du es noch nicht kennen. Die Videos sind in aller Regel nicht länger als zehn Minuten. Man verpasst sicher etliche Feinheiten, aber zumindest die Handlung hast du damit parat.
LikeGefällt 2 Personen
Vielen Dank für den Tipp, das schaue ich mir mal an.
LikeGefällt 2 Personen