Meursault, Hauptfigur dieses Romans, führt ein sehr gewöhnliches und durchschnittliches Leben. Er wohnt in Algier, bis vor kurzem zusammen mit seiner Mutter, die nun verstorben ist. Er hat eine Freundin, die ihn heiraten will und eine Arbeitsstelle, über die es nicht viel zu sagen gibt. Außergewöhnlich an ihm ist vielleicht seine Gleichgültigkeit. Er findet nichts dabei, seine Mutter in ein Altenheim gegeben zu haben. Man habe sich nichts mehr zu sagen gehabt, keine Erwartungen mehr aneinander gestellt. Getrennte Wege zu gehen ist nicht mehr als eine logische Konsequenz. Auch ihr Tod, mit dem der Roman seinen Anfang nimmt, kann ihn nicht aus der Bahn werfen. Ähnlich gleichgültig verhält er sich auch in allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Er würde seine Freundin Marie heiraten, wenn es ihr gefällt, er würde aber auch jede andere Frau heiraten, schließlich ist es am Ende egal. Marie findet er schön, er begehrt sie und freut sich, wenn er sie treffen kann. Aber ob das nun Liebe ist oder nicht, ist ihm gleichgültig.
„Na gut, ich werde also sterben. Früher als andere, das war klar. Aber jeder weiß, dass das Leben nicht lebenswert ist.“
Kurz: er ist die Personifikation Camus‘ damaliger Philosophie, er ist ein wandelnder Existenzialismus. Die Welt, in der er lebt allerdings ist geprägt von ganz anderen moralischen Vorstellungen, findet es verwerflich, die eigene Mutter nicht zu betrauern und fordert Entscheidungen in Sachen Liebe. Das wird ihm zum Verhängnis, als er einen Mann tötet. Auch das ohne großen Grund, ohne erkennbare Reue und dementsprechend ohne brauchbare Verteidigung. Dabei ist Meursault nicht ohne Gefühlsregung. Im Gefängnis leidet er unter den Gedanken eines freien Mannes, sehnt sich nach dem Meer und der Stadt, dem Viertel, das er liebt. Nur sind eben diese Gefühle nicht in eine konventionell verständliche Bahn zu lenken.
Der Roman ist mit knapp mehr als 120 Seiten sehr schmal und liest sich leicht. Dennoch gelingt es Camus, darin wesentliche Ansätze seiner Philosophie zu kondensieren. Wenn man daran kein Interesse hat, wird man mit dem Roman und vor allem mit seiner Hauptfigur größere Schwierigkeiten haben, denn die Handlung per se ist nun wirklich nicht sehr aufregend. Nicht einmal die Tötung eines Mannes und der darauffolgende Prozess sind spannend, wenn sie der Hauptperson so egal sind. Aber um Spannung geht es hier ja auch nicht.
Gehört habe ich den Roman in einer Lesung von Ulrich Matthes, der den Text sehr klar und schnörkellos vorträgt, was die Atmosphäre unterstreicht. Viel mehr als schnörkellos kann man aber auch kaum machen, das gibt der Text einfach nicht her. Da der Roman aber auch sehr klar und in oft kurzen Sätzen geschrieben ist, kann man dem Sprecher gut folgen, selbst wenn man nebenher Risotto kocht. In diesem Fall also kann ich ausdrücklich zur Hörfassung raten.
Albert Camus: Der Fremde. Autorisierte Lesefassung, gelesen von Ulrich Matthes. 223 Minuten. Steinbach Sprechende Bücher. Die Originalausgabe erschien 1942 unter dem Titel L’Étranger bei Gallimard.
Das Zitat stammt aus dem Hörbuch, das leider keine Kapitel hat. Man findet es in Minute 204.
Das Hörbuch wurde mir gegen eine geringe Jahresgebühr freundlicherweise von der Stadtbücherei Bremen zu Verfügung gestellt. Support your local library.
Lang her, dass ich das zuletzt gelesen habe. Muss aber unbedingt die Anekdote hier abladen, dass ich in der AVL-Französischklausur… oder wars die Übung davor?… „J’ai eu de la peine“ mit „ich hatte Brot“ übersetzt habe…
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Ungefähr so habe ich Camus auch mal übersetzt…
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wir waren ja im gleichen Seminar, oder…?
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Und offenbar auch zeitgleich in der Übersetzungsklausur. Ich hab den Ausschnitt nicht mal mehr erkannt. War es der Anfang? Susanne neben mir war ganz gut…
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lt Internet 2. Kapitel… ich erinnere mich auch nur noch an die paar Worte: „J’ai eu de la peine…“
Weiter geht es: „…à me lever parce que j’étais fatigué de ma journée d’hier. Pendant que je me rasais, je me suis demandé ce que j’allais faire et j’ai décidé d’aller me baigner.“
Da muss man schon ne große Leuchte sein, um auf Brot zu kommen 😉
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Ich erinnere mich nur, dass ich dachte „komm schon, aus dem Französischen ins Deutsche? Wie schwer kann es sein? Ich hatte das vier Jahre!“ Ja, hat nicht funktioniert. Ich will nicht ausschließen, dass ich ein Brotrezept im Plusquamperfekt übersetzt habe.
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Ich habe ,,Der Fremde“ auch vor einiger Zeit als mein erstes Werk von Camus gelesen und war erstaunt, wie verständlich und lesbar es ist. War mal wieder ein Fall von ,,Angst vor dem großen Namen“.
Viele Grüße
Jana
PS: Eine Bibliotheks-App nutze ich auch. Beste Entscheidung!
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Das stimmt. Die große Ehrfurcht!
Die onleihe-App habe ich erst vor ganz kurzem entdeckt, finde sie aber super!
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Die Libby-App ist auch toll, wenn du auf englischsprachige Original(hör-)bücher zugreifen willst und man kann sich mit seiner deutschen Bibliothekskarte anmelden.
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Ach cool! Die kenne ich noch gar nicht. Guck ich mit aber mal an. Vielen Dank für den Tipp!
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Wenn Ihr schon so hübsche Übersetzungen liefert: Wir haben in der Schule „La Chute“ von Camus gelesen, von uns hartnäckig „Der Schutt“ genannt. Rückblickend würde ich sagen, wir waren noch zu jung für die Lektüre. Schade, weil es mir Camus bis heute verleidet hat. Aber mal sehen: Man soll ja nie nie sagen….
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„La Chute“ lädt ja auch geradezu dazu ein. Mir hätte die Schule beinahe Heinrich Mann verleidet und Fontane sowieso. Manchmal schießt der Literaturunterricht sich selbst ins Bein.
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