Nicht blöd, nur langsam – „Lottery“ von Patricia Wood

Perry L. Crandall ist nicht blöd, er ist nur langsam. Er kann 76 IQ-Punkte vorweisen, darauf ist er stolz und es ist sein Beweis, dass er nicht blöd ist. Wenn man ihm Aufgaben zeigt, dann macht er sie auch ordentlich. Nur manchmal dauert es halt ein kleines bisschen länger. Seine Mutter war mit seiner Erziehung überfordert, deshalb ist er bei seinen Großeltern aufgewachsen. Mittlerweile ist er 32 Jahre alt, arbeitet im Hafen bei einem Schiffsausstatter, ist verliebt in Cherry, die er aus dem Supermarkt kennt und sein bester Freund ist Keith, mit dem er arbeitet und in der freien Zeit segeln geht.

„Retarded. Idiot. These are words I know. They mean foolish or stupid. I am not foolish. I am not stupid. I am not retarded. I am slow.“

Das alles läuft wunderbar, bis sein Leben zwei ganz entscheidende Wendungen nimmt. Erst stirbt seine Großmutter. Perry zieht das den Boden unter den Füßen weg. Sie war nicht nur seine wichtigste Bezugsperson, sie hat ihm auch geholfen einzuschätzen, was richtig oder falsch ist, wer es gut mit ihm meint und wer gemein zu ihm ist. Und dann, in einer zweiten entscheidenden Wendung, gewinnt er 12.000.000 Dollar in der Staatslotterie. Auf einmal ist er reich und berühmt wird er kurz danach. Doch mit dem Reichtum kommen – natürlich – auch die Neider und Geier. Seine Brüder, mit denen er über Jahre keinen Kontakt mehr hatte, erinnern sich plötzlich an ihn. Auch seine Mutter taucht aus der Versenkung auf. Perry schreibt Scheck um Scheck. Allerdings nie über mehr als 500 Dollar – denn mehr als zwei Nullen passen in seiner sorgfältigen aber ungelenken Schrift nicht auf das Stück Papier.

Wie auch Perry L. Crandall ist der Roman über ihn ziemlich langsam und noch dazu auch ein bisschen blöd. Patricia Wood lässt ihren Protagonisten selbst erzählen, was an Stellen charmant ist, sich aber oft auch sehr, sehr zieht. Perrys Art zu erzählen ist weitschweifig und oft mühsam, er wiederholt sich und erklärt immer wieder, auf welcher Grundlage er seine Entscheidungen trifft. Das alles in kurzen Sätzen. Die Personen, die ihn umgeben, sind extrem stereotyp charakterisiert. Eigentlich traut man Perry zu, dass er seine Umgebung differenziert wahrnimmt, und meistens macht er das auch. Aber seine Familie ist ein derart stereotyp hinterhältiger, fieser Haufen, dass sie jedem Disney-Bösewicht zur Ehre gereichen würden. Seine beiden Brüder haben ihr eigenes Vermögen in undurchsichtigen Geschäften verspekuliert, ihre Frauen sind raffgierige Zicken, von denen eine sogar einen rosa Pudel besitzt, und seine Mutter zeigt überhaupt keine Charaktereigenschaft außer regelmäßig wechselnden Haarfarben. Außerdem haben sie einen halbseidenen Italiener mit Mafia-Manieren aufgetrieben, der versucht, Perry zu diversen Unterschriften zu bewegen. Auf der anderen Seite stehen die strahlenden Held*innen aus dem Yachthafen, die immer, immer gut sind. Keith flucht nur manchmal zu viel und Perry weiß von seiner Oma, dass man das nicht macht. Das erklärt er locker 20 mal.

Die beiden Seiten kämpfen um Perrys Seele. Seine Familie versucht mit allen Mitteln, an seinen Reichtum zu gelangen, die Yachthafen-Crew versucht, ihn davor zu schützen. Aber am Ende muss Perry seine Entscheidungen selbst treffen. Zum Glück hat er ein Herz aus Gold und weiß, wie man den Menschen hilft. Dass die Geschichte ein Happy End finden muss, dass Perry die richtigen Entscheidungen trifft und sein Leben in Frieden leben wird, versteht sich schon von selbst. Wie rosa-rot und kitschig dieses Happy End dann allerdings wurde, davon war ich dann schon überrascht.

2008 war Lottery auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction, der damals noch der Orange Prize war. Warum ist mir ein Rätsel. Der Protagonist macht so gut wie keine Entwicklung durch, von seinem Umfeld mal ganz zu schweigen. Die Story ist platt und vorhersehbar und bringt uns als einziges bei, dass Geld allein auch nicht glücklich macht und die wahren, wichtigen Werte ganz andere sind. Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt nämlich. Das ist kulturgeschichtlich sicher weder eine neue noch eine originelle Message, man wird aber niemals müde, sie zu verbreiten. Ich bin nicht sicher, ob Lottery eigentlich mal ein Jugendroman sein sollte. Ich könnte mir vorstellen, dass ich den Roman mit 16 gerne gelesen hätte. Im Erwachsenenprogramm aber ist es einfach nur eine ziemlich platte Feel-Good-Story, die noch dazu stilistisch eher mühsam ist.


Patricia Wood: Lottery. Berkley Books 2007. 318 Seiten. Lieferbar bei Putnam. Eine deutsche Übersetzung konnte ich nicht finden.

Das Zitat stammt von S. 27.

2008 war Patricia Wood mit diesem Roman auf der Shortlist des Orange Prize. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.

2 Gedanken zu “Nicht blöd, nur langsam – „Lottery“ von Patricia Wood

  1. sabhut 21. Mai 2019 / 12:10

    Wieder mal eine sehr interessante und amüsante Rezension, liebe Marion! Danke!
    Wenn ich das so lese, bin ich doch froh, für „Ein Anderer“ nicht die Perspektive des Protagonisten gewählt zu haben.

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    • Marion 21. Mai 2019 / 17:25

      Liebe Sabine,
      ich stelle es mir tatsächlich total schwer vor, bei einem Protagonisten wie Perry, aber eben auch wie Ernst, einen guten Weg zwischen glaubwürdiger Perspektive und lesbarem Stil zu finden. Vor etwa zwölf Jahren habe ich mal „Supergute Tage“ gelesen, das aus der Perspektive eines Autisten erzählt wird. Es hat mir damals sehr gut gefallen. Beim Lesen dieses Romans habe ich mich gefragt, ob ich das heute immer noch fände. Ich fürchte fast, das nicht. Deshalb lese ich den Roman sicherheitshalber nie wieder, dann kann ich ihn als sehr gut in Erinnerung behalten.

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