Es ist ein ungewöhnlicher Roadtrip, zu dem Leonie mit ihren Kindern Jojo und Kyla aufbricht. Endlich soll Michael, ihr Freund und Vater der Kinder, aus dem Gefängnis entlassen werden. Mit Leonies Freundin Misty im Schlepptau macht die Familie sich auf den Weg in den Norden Mississippis, um ihn in der Freiheit willkommen zu heißen.
Die Beziehung zwischen Leonie und ihren Kindern ist zumindest angespannt. Seit Michael im Gefängnis ist, leben die drei bei Leonies Eltern, die für Jojo und Kyla zu Ersatzeltern geworden sind. Unterstützung von Michaels Eltern können sie nicht erwarten. Leonie ist schwarz, Michael ist es nicht, und dieser Umstand reicht, um die Beziehung und die daraus entstandenen Kinder von vornherein nicht zu akzeptieren. Ohnehin ist die Situation zwischen den beiden Familien deutlich angespannt, seit Michaels Cousin vor etlichen Jahren Leonies Bruder Given erschossen hat. Trotz anderslautenden Zeugenaussagen wurde die Tat damals als tragischer Jagdunfall zu den Akten gelegt.
Es mag an dieser Ungerechtigkeit liegen, dass Given nie seinen Frieden gefunden hat und nicht still in seinem Grab liegen kann. Immer, wenn Leonie auf Meth ist – und das ist sie oft – erscheint ihr Bruder. Ihr ist völlig klar, dass er nur eine Halluzination ist, doch die ist so deutlich, dass sie sich zusammenreißen muss, nicht mit ihm zu sprechen. Ganz ohne Drogeneinfluss haben auch ihre Kinder die Gabe, die Toten zu sehen, deren Seelen noch an der Erde hängen. Einer von ihnen ist Richie, der vor vielen Jahren im gleichen Gefängnis saß, in dem nun Michael ist. Er war damals noch ein Junge, gerade zwölf Jahre alt und inhaftiert, weil er Lebensmittel gestohlen hatte. An seinen Tod kann er sich nicht erinnern, und das lässt ihm keine Ruhe. Er muss wissen, ob er verraten wurde. Von Jojo verlangt er nun, dass er das Ende seiner Geschichte herausfinden muss.
And then Leonie laughs, and even though it’s a laugh, it doesn’t sound like one. There’s no happiness in it, just dry air and hard red clay where grass won’t grow.
Die Atmosphäre des gesamten Romans ist düster bis trostlos, an etlichen Stellen auch bedrohlich. Zum einen liegt das an den Geistern, zum anderen vor allem an der Unsicherheit der Kinder. Leonie ist mit ihrer Rolle als Mutter völlig überfordert. Sie habe keinen Mutterinstinkt, sagt ihr eigene Mutter. Die dreijährige Kayla ist die ganze Autofahrt über krank und übergibt sich permanent, womit Leonie überhaupt nicht umgehen kann. Auch der schleichende, schmerzhafte und unaufhaltsame Tod der an Krebs erkrankten Großmutter sorgt für eine gedrückte Stimmung. Und zu guter Letzt sorgen auch die Elemente alten Aberglaubens oder Wissens – das kann man so oder so sehen – für eine mystischen, dunklen Unterton.
Die gesellschaftliche Situation, vor der der Roman spielt, gibt ebenso wenig Anlass für positive Stimmung. Jede Generation der Familie hat Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Der Großvater Pop musste noch Lynchmorde mit ansehen und Leichen, die ohne Zehen und Finger an Bäumen hingen. Auch sein Sohn Given fiel einer rassistisch motivierten Gewalttat zum Opfer. Bis in die jüngste Generation ist allen klar, dass ihre Hautfarbe eine Gefahr bedeutet, die immer da sein wird.
Sing, Unburied, Sing ist ein sehr emotionaler, vielschichtiger und mitreißender Roman, der durch seine wechselnden Erzählperspektiven sehr gewinnt. Ich persönlich hätte auch mit weniger Geistern gut leben können, sie haben aber durchaus ihren Platz in der Geschichte. Mit oder ohne Schatten der Vergangenheit ist der Roman aber auf jeden Fall eine sehr lesenswert und stilsicher geschriebene Geschichte einer fragilen Familie, bei der ein Blick hinter die Kulissen lohnt.
Jesmyn Ward: Sing, Unburied, Sing. Bloomsbury 2018, 289 Seiten. Originalausgabe 2017 bei Scribner. Eine deutsche Übersetzung (Ulrike Becker) ist unter dem Titel Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt 2018 bei Kunstmann erschienen.
Das Zitat stammt von S. 130.
2018 stand dieser Roman auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.
Ich habe diesen großartigen Roman auch sehr gern gelesen, empfehlen kann ich auch ihren Roman „Vor dem Sturm“. Viele Grüße
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Vor der Women’s Prize-Nominierung hatte ich Ward überhaupt nicht auf dem Schirm. Aber „Vor dem Sturm“ steht jetzt auch schon auf der Leseliste.
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Ich fand das so großartig, gerade weil es mir so viel Sachen verkauft hat, die ich sonst ganz furchtbar finde.
„Vor dem Sturm“ steht hier noch rum, ich glaub das hab ich in Seckbach geklaut.
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