In den frühen 1930ern, als die wirtschaftliche wie soziale Lage in Deutschland nicht sehr rosig war, berichtete Ernst Haffner erstmals von den Blutsbrüdern, einer Clique, wie es sie in Berlin zu dieser Zeit massenhaft gab. Die Gruppe besteht aus jungen Männern und Jungen, zum Teil nicht älter als 15 Jahre, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr bei ihren Eltern leben und sich, so gut es eben geht, auf der Straße durchschlagen. Sie betteln, prostituieren sich und stehlen, schlafen in billigen Herbergen und vertrödeln die Zeit in warmen Kneipen.
Die Blutsbrüder bilden einen festen und solidarischen Verbund, teilen was sie haben und schützen die anderen. An die Zukunft denkt man nicht. Wenn einer mal dreißig, vierzig Mark hat, werden die noch am gleichen Abend versoffen, auch wenn man von dem Geld einen ganzen Monat lang eine billige Miete zahlen könnte. Sie alle wissen, dass ihre Zukunft ohnehin nicht viel zu bieten hat. Nach der verkorksten Jugend mit Strafanzeigen, Ausbrüchen aus Fürsorgeanstalten und Gefängnisaufenthalten glaubt keiner mehr, noch groß was erreichen zu können. Nach außen verhalten die Jungen sich gleichgültig bis skrupellos und können auch recht brutal werden.
„Sie gönnten ihm nicht die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, die Rummelplätze, die Mädels. Da wehrte er sich. Mit Händen und Füßen ging er gegen seine Feinde vor, die ihn einsperren wollten.“
Sie sehen keine Chance, in den nächsten Jahren ein normales Leben führen zu können. Bis zu ihrem 21. Geburtstag müssten sie rein rechtlich in einer Fürsorgeanstalt leben, und wer will das schon? Einige von ihnen sind schon mehrfach aus einer ausgebrochen. Und auch der Autor lässt an den Einrichtungen kein gutes Haar. Er sieht sie als Keimzelle des Übels, als Orte, an denen die Jungen zusammen eingesperrt werden ohne etwas zu lernen außer den besten Tipps für Einbrüche und Prostitution. Wer seine Jugend in einer Fürsorgeanstalt verbringen muss, ist verloren, so die deutliche Meinung des auktorialen Erzählers.
Ernst Haffner arbeitete als Journalist und Sozialarbeiter in Berlin. Über den Autor ist kaum etwas bekannt, Blutsbrüder ist der einzige Roman, von dessen Existenz man heute weiß. Der Titel wurde nach Erscheinen 1932 begeistert aufgenommen und viel besprochen, ein Jahr später aber schon verboten. Es ist tatsächlich ein großer Glücksfall, dass der Roman 2013 neu entdeckt und verlegt wurde. Haffner schreibt sehr knapp und sachlich, stellenweise klingt der Text eher wie eine Reportage. Dennoch ist er sehr empathisch mit seinen Figuren, für die er immer Verständnis aufbringt, auch wenn sie sich alles andere als gesetzeskonform verhalten, und auch moralisch betrachtet sicher nicht immer alles richtig machen. Blutsbrüder ist ein beeindruckendes Zeitdokument, das ein schon damals kaum bekanntes Milieu interessant und sympathisch beschreibt. Zudem gelingt es Haffner sehr gut, die Probleme der Clique in den sozialen Kontext einzuordnen und die Gegebenheiten zu kritisieren, ohne dabei belehrend zu erscheinen. Auch gute 80 Jahre nach Erscheinen ist der Roman noch aktuell und lesenswert.
Ernst Haffner: Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman. Originalausgabe Bruno Cassirer 1932 unter dem Titel Jugend auf der Landstraße Berlin. Neu aufgelegt 2013 bei metrolit. Gehört in der Hörbuchfassung gelesen von Ben Becker. Regie: Harald Krewer. Argon Hörbuch 2013. 5 Stunden, 48 Minuten.
Das Zitat stammt aus Kapitel 19 des Hörbuchs.
Ein ganz großer Roman. Sehr schön, dass Du an ihn erinnerst. Ich finde es wichtig, dass immer wieder ältere Romane wiederentdeckt und neu veröffentlicht werden und so nicht in Vergessenheit geraten. Viele Grüße
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Liebe Constanze, da hast du völlig recht. Vor lauter Neuerscheinungen vergisst man schnell, dass es auch viele tolle ältere Bücher gibt. Gerad aus der Zeit der Weimarer Republik stammen ein paar echte Schätze.
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