Der Bruder des Erzählers ist tot, damit beginnt der Roman. Der Erzähler, dessen Namen übrigens ebenso unbekannt bleibt wie der seines Bruders, erinnert sich an die letzte Nacht, in der die beiden sich gesehen haben. Neun Monate später stirbt der Bruder, ohne dass sie sich noch einmal gesehen haben. In dieser letzten Nacht stand der große Bruder auf einmal vor der Tür des kleinen, die ersten Biere schon hinter sich, diverse noch vor sich. Der kleine Bruder weiß, dass der große zu viel trinkt, oft genug hat er ihn mitten in der Nacht stockbetrunken angerufen. Trotzdem lässt er sich erweichen und folgt seinem Bruder in die kalte Nacht um eine Kneipe zu finden, in der sie noch weitertrinken können.
Diese eine Nacht nimmt einen beträchtlichen Teil des Romans ein und der große Bruder nutzt sie, um dem kleinen Bruder zu erklären, warum er sich so manisch mit Geschichte befasst, warum er kein Gräuel auslassen kann und jedes Detail wissen will. Nachdem er sich mit den NS-Verbrechen befasst hat, ist es nun Dutroux, von dessen Taten er alles wissen will und darum jedes Protokoll der Verhandlungen kennt. Ja, so fröhlich ist der Roman. Ich habe sehr gelitten mit dem Erzähler, der merkt, dass er schon lange ins Bett gehört, dass er viel zu viel getrunken hat und doch seinen Bruder reden lassen will, weil er merkt, dass er es muss und dass es wichtig ist für ihn. Die Kritik des Bruders an der Gesellschaft ist groß und umfassend und droht manchmal Theken-Style in bierseligen Pathos zu kippen, Helle schafft es aber, das Ruder immer noch kurz vorher herumzureißen.
„… aber das ist lange her, kleiner Bruder. Und jetzt gehen wir saufen.“
Während der Jüngere noch an die Zeiten denkt, in denen der große Bruder ihm zum Einschlafen Geschichten erzählt hat, hat der Ältere die Rolle des verantwortungsbewussten Beschützers schon lange abgelegt. Der Jüngere geht oft nur noch widerwillig ans Telefon wenn er die Nummer des Bruders auf dem Display sieht, weil er fürchtet, ihn nach einem weiteren Totalabsturz mal wieder in irgendeiner Kneipe aufsammeln zu müssen. Seinem Gewissen ist das nicht unbedingt zuträglich, vor allem nach dem frühen Tod des Bruders.
Ihr seht schon, ein fröhlicher Lückenfüller ist auch dieses Buch von Helle nicht. Zwar reicht die Düsterheit bei weitem nicht an das post-apokalyptische Eigentlich müssten wir tanzen heran, aber Heiterkeit kommt auch nicht auf. Wie schon erwähnt geht ein nicht geringer Teil des Romans für die eine Nacht drauf, in der die beiden Brüder immer betrunken werdender von einer Kneipe zur nächsten taumeln und die genutzt wird, um das Weltbild des einen darzulegen. Auch der Rest des Romans ist ausgesprochen arm an Handlung. Es ist eine Abfolge von Erinnerungen an den Bruder, zusammengesetzt aus einzelnen Szenen, die dem Erzähler wieder in den Sinn kommen und in denen er nach Wendepunkten sucht, nach den Ereignissen, die dazu führten, dass sein Bruder auf einmal nicht mehr zwei Köpfe größer war als er. Es ist ein Nachdenken, beinahe eine Meditation, über den Zustand der Welt und darüber, wie man mit den Grausamkeiten, die einem täglich darin begegnen umzugehen gedenkt und ob man damit überhaupt einen Umgang finden kann und will. Eine der großen Schwierigkeiten des Bruders liegt nämlich darin, dass er keinen Abstand zwischen sich und die Ereignisse bringen kann. Er liest von einem Siebzehnjährigen, der umkam, als er einen Kondomautomaten sprengte und muss unweigerlich an all die Leben denken, die damit verbunden sind. An den Menschen, der den Toten findet, an die Polizisten, die die Nachricht überbringen und an die Eltern, die jetzt keinen Sohn mehr haben, weil er bei der Sprengung eines Kondomautomaten ums Leben gekommen ist.
Die Überwindung der Schwerkraft ist ein düsteres und anstrengendes Buch, von dem ich einige Pausen gebraucht habe, obwohl es nur 200 Seiten hat. Es ist mit seinen nicht enden wollenden Sätzen, null Absätzen und durchgehendem Blocksatz auch nicht unbedingt auf leichte Lektüre ausgelegt. Diese Form führt aber auch dazu, dass das Buch einen Sog entwickelt und einen nicht mehr so leicht loslässt und man dranbleiben will an den Gedanken der Brüder und es auch schwer ist, irgendwo aufzuhören, wenn einen nichts dazu einlädt.
Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft. 208 Seiten. Suhrkamp 2018.
Das Zitat stammt von S. 23.