Im Oktober 1922 laufen die Eheleute Edith und Percy Thompson auf dem Rückweg vom Theater die Londoner Belgrave Road entlang, als ein Mann aus einem Gebüsch springt und Percy Thompson mit drei Messerstichen so schwer verwundet, dass er noch am Tatort stirbt. Der Täter wird nur wenig später gefasst. Es ist Frederick Bywaters, der Liebhaber von Edith Thompson. Nur wenig später stehen beide wegen gemeinschaftlich geplanten Mordes vor Gericht, worauf die Todesstrafe steht.

Jill Dawson hat sich dem Fall aus Ediths Sicht angenommen. Aus dem Gefängnis heraus schreibt sie Briefe an Fred, obwohl sie weiß, dass sie diese nicht wird abschicken dürfen. Sie schreibt über ihr Leben an der Seite von Percy und den Verletzungen, die damit einhergingen, über das erste Treffen mit Fred, damals noch der Freund ihrer Schwester, und der so vorsichtigen wie gefährlichen Affäre, die sich in der Folge entwickelte. Sie freut sich auf die Verhandlungstage, an denen sie die enge Zelle verlassen darf und vor allem auf das Wiedersehen mit Fred. Doch die Verhandlungen sind auch mühsam und beschämend, denn entgegen ihrer Bitte hat Fred ihre Briefe, die sie vor der Tat an ihn geschrieben hat, nicht vernichtet. Nun dienen sie als Beweismittel, denn neben intimen Details der Beziehung sind dort auch Pläne festgehalten, Percy mit Gift oder Glassplittern im Essen aus dem Weg zu räumen.
Den Einstieg in den Roman habe ich als sehr mühsam empfunden. Edie nennt Fred in ihren Briefen „darlint“ und sich selbst „Peidi“, was im Text nicht erläutert wird, aber dazu führt, dass sie nicht besonders helle klingt. Zudem bestehen die ersten Briefe vor allem daraus, ihrem darlint zu versichern, wie schnell alles wieder gut sein wird und dass man vor Gericht doch verstehen müsse, dass diese Tat die einzige Möglichkeit war und wie zärtlich sie ihn liebt. Der Ton ändert sich im Lauf der Geschichte deutlich und die Handlung wird zunehmend dramatisch. Edie ist zum Zeitpunkt des Mordes 28 Jahre alt und bereits sieben Jahre verheiratet. In ihrer Ehe ist sie psychischer wie physischer Gewalt durch ihren Mann ausgesetzt, der wegen Kleinigkeiten die Nerven verliert, sie schlägt und vergewaltigt (nach damaligem Stand seine ehelichen Rechte mit Nachdruck einfordert). Sie verdient mehr als er, was er ihr übel nimmt, und auch an der ungewollten Kinderlosigkeit gibt er ihr die Schuld. Er glaubt, dass Edie heimliche Wege der Verhütung gefunden habe, um ihm aus Boshaftigkeit Nachwuchs zu verwehren. Einer Scheidung stimmt er dennoch, auch auf mehrfaches und eindringliches Bitten hin, nicht zu. Sie kämen doch gut miteinander aus, findet er. Ohne Einverständnis des Mannes aber kann es keine Scheidung geben. Selbstmord oder Mord sind aus Edies Sicht die einzigen Wege aus der Situation und in manchen Phasen erscheint ihr beides gleich wünschenswert.
Der Roman ist zusammengesetzt aus Zeitungsartikeln, Briefen und Edies Erinnerungen. Die Zeitungsausschnitte entsprechen alle den Originalen, die Briefe beinhalten bruchstückhaft Zitate. Die Handlung erschließt sich beim Lesen ausschließlich über und aus Edies Perspektive, was in den anderen Figuren vorgeht, kann man mit ihr nur erahnen. Der Fortgang ihrer zu Papier gebrachten Gedanken wird zunehmend dramatisch. Mit jeder Gerichtsverhandlung wird ihre Lage aussichtsloser, ihre Frustration über die Situation im Gefängnis unerträglicher. Zeitgleich entwickelt sich ihre erinnerte Geschichte immer tragischer. Aus einer harmlosen und scheinbar selbstsüchtigen Affäre im Sommerurlaub – noch dazu mit dem Freund ihrer Schwester – wird eine Liebesgeschichte, in der Edie das erste mal in ihrem Leben aufrichtige Aufmerksamkeit und Zuneigung durch einen Mann erfährt. Erst mit Freds Eintritt in ihr Leben, mit dem Erleben einer Alternative, kann sie erfassen, wie grausam und gefühllos ihre Ehe tatsächlich ist. Ob Fred so bedingungslos zu ihr steht, wie sie das annimmt, scheint nicht sicher, wird von Edie aber, auch mit einer gewissen Absicht, kaum hinterfragt.
Der Fall von Fred & Edie war zur Zeit der Verhandlung sehr populär und viele Medien berichteten darüber und rissen sich um Hintergrundgeschichten der beteiligten Personen. Material um ihre Charaktere zu unterfüttern hatte Dawson also reichlich. Es gelingt ihr, Edie nachvollziehbar und glaubhaft zu zeichnen, ebenso wie ihre Beziehung zu Fred. Die Unschuld und Leichtigkeit steht in brutalem Kontrast zur Gleichgültigkeit und Emotionslosigkeit, die Edie in den stark reglementierten Abläufen im Gefängnis und vor Gericht erlebt.
„All my love to you, Be Brave, my sweet.“
Wer vor dem Lesen nicht wissen will, wie es ausgeht, sollte besser nicht online recherchieren und auch hier nicht mehr weiterlesen. Fred & Edie wurden am 9. Januar 1923 gehängt, obwohl Fred während des gesamten Verfahrens beteuerte, dass Edie von dem geplanten Angriff auf ihren Mann nichts gewusst hatte und dies allein seine Tat gewesen sei. Im Moment des Hängens erlitt Edith Thompson eine starke vaginale Blutung, die als Totgeburt gedeutet wurde. Weitere Untersuchungen fanden allerdings nicht statt. Alle Frauen, die nach Edith Thompson gehängt wurden, mussten weite Leinenumhänge tragen, um die Traumatisierung Umstehender zu verhindern.
Jill Dawson: Fred & Edie. Sceptre 2000. 276 Seiten. Lieferbar in einer Neuauflage beim gleichen Verlag für ca. € 11,-. Erstausgabe Hodder and Stoughton 2000. Die deutsche Übersetzung von Susanne Goga-Klingenberg ist unter dem Titel Edith & Fred 2002 bei rororo erschienen; z.Zt. nur antiquarisch erhältlich.
Das Zitat stammt von S. 28
Mit diesem Roman war Dawson 2001 für den Orange Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Fiese Story.
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Huhu!
Oha, da verbirgt sich ja so einiges hinter dem recht harmlosen Cover, zu dem ich ehrlich gesagt wohl nicht gegriffen hätte. Ich hab mir das Ende nun extra gespart, denn dieses Buch will ich unbedingt lesen. Antiquarisch erhältlich oder nich, es wird bei mir einziehen. Danke dir fürs Vorstellen!
Liebste Grüße! ❤
Gabriela
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