Als Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht schrieb und veröffentlichte, war die öffentliche Debatte noch nicht bei der „Zweiten Welle“ angekommen. Entsprechend aufsehenerregend waren ihre Thesen. Den Frauen, so Beauvoir läge kein „Frausein“ inne, es seien nicht Gene oder Hormone, welche die Frau zu dem machten, was sie in der Gesellschaft sei, sondern gesellschaftliche und hierarchische Strukturen. Die Frau würde bewusst als „das Andere“ definiert und konstruiert, als Objekt, das in der subjektiven Welt der Männer seinen Platz nur über letztere definieren kann.
Das Buch ist in zwei Teile unterteilt. Der erste widmet sich „Fakten und Mythen“, im zweiten geht es um „Gelebte Erfahrung“. Insgesamt bringt das Buch es auf gute 900 eng bedruckte Seiten (die 41 weiteren meiner Ausgabe werden für Quellenangaben gebraucht). Im ersten Teil legt de Beauvoir dar, wie sich die Rolle der Frau in der Geschichte entwickelt hat, bzw. wie ihre Rolle im Laufe der Zeit definiert wurde. Vor allem prangert sie an, dass Frauen über weite Teile der Geschichte keine juristisch eigenständigen Personen waren, die selbstständig wirtschaftliche Entscheidungen treffen konnten. Waren nicht die Eltern der direkte Vormund, war es der Ehemann und wo der fehlte, waren Frauen in aller Regel von anderen Männern in der Verwandtschaft abhängig. Die Frau war somit zu lebenslanger Unmündigkeit verurteilt. Selbst wo es einzelnen Frauen ermöglicht wurde, ein hohes Niveau an Bildung und Selbstständigkeit zu erlangen, waren ihnen oft die Gesetze im Weg, die eine endgültige Emanzipation verhinderten. Wo also die Erziehung des Mädchens darauf ausgelegt ist, eine gute und wenig selbstständige Ehefrau zu werden, sei es kein Wunder, dass aus diesen Mädchen keine starken Frauen werden, die sich zu geistigen Höhenflügen erheben. Vor allem im Teil „Mythos“ widmet Beauvoir sich der Literatur um zu zeigen, wie die Frau dort dargestellt wird. Dazu erläutert sie unter anderem Werke von Montherlant, D. H. Lawrence, Claudel, Breton und Stendahl. Dass dies in einer kulturgeschichtlichen Betrachtung seinen Raum braucht ist klar, dennoch empfand ich die Analyse der betreffenden Ausschnitte zum Teil ein wenig langatmig, auch wenn sie gut und treffend eingeordnet werden.
„Die Frau ist eine im höchsten Grade poetische Realität, da der Mann alles in sie hineinprojiziert, was er nicht vorhat zu sein.“
Im zweiten Teil geht es dann um die konkrete Erfahrung der Frau, ihre Entwicklung ab der Kindheit, ihre spätere Stellung in der Gesellschaft und ihre Wahlmöglichkeiten bei der Ausgestaltung ihres Lebensweges. In diesen Kapiteln werden die Beispiele konkreter, allerdings wird auch hier viel aus der Literatur, Briefen und Tagebüchern zitiert. Im letzten und vierten Teil wagt de Beauvoir einen Ausblick, wie „die unabhängige Frau“ aussehen könnte, bzw. welche gesellschaftlichen Änderungen es geben müsste, um ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Männern und Frauen zu ermöglichen. Nach de Beauvoir gibt es in der menschlichen Gesellschaft überhaupt nichts, was natürlich wäre, alles sei vom Menschen gemacht, so auch jede Hierarchie und jeder daraus entwachsende Konflikt. Der einzige Ausbruch aus der Situation sei das Anerkennen und Annehmen der eigenen Freiheit, die immer auch Risiken und wenig Bequemlichkeit mit sich bringt. Damit nimmt de Beauvoir auch die Frauen in die Pflicht, die sich nicht auf ihrem Unterdrücktsein ausruhen dürfen. Wer stillsitzt und von den Mächtigeren die großmütige Geste der geschenkten Freiheit erwartet, kann erfahrungsgemäß lange warten. Denen, die bedauern, dass die „wahre Weiblichkeit“ in diesem Prozess verloren ginge, hält sie entgegen, dass man das Schöne ja durchaus bewundern dürfe, man aber bereit sein müsse es zu opfern, wenn es Leid für andere bedeutet. Auch die prachtvollen Plantagen der Südstaaten seien sicher wunderschön gewesen, aber eben nicht haltbar, wenn man sie nur mit Leid erhalten könne.
Da bin ich dann auch schon an einem Kritikpunkt. Zugegeben, den Vergleich eben mochte ich, vor allem da sie in diesem Abschnitt (S. 896, sollte jemand nachlesen wollen) gerade sehr schwungvoll schreibt. Zuweilen aber verrennt sie sich in ihren Vergleichen der Ungerechtigkeit. Im zweiten Teil schreibt sie unter anderem, dass die Stellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt vergleichbar sei mit der der schwarzen Ex-Kolonialbevölkerung in Frankreich. Das möchte ich dann doch mal sehr anzweifeln. Auch, weil die „die Frau“ in ihrer Unterdrückung in vielen Situationen zumindest eine Art Schutz erfährt – der die Nachteile ihrer niedrigeren sozialen Stellung aber nicht aufhebt. Auch ihre Erklärungen der Homosexualität und ihrer Ursachen dürften mittlerweile zumindest überholt sein, aber das mag wohl auch der Zeit geschuldet sein, in der Beauvoir ihre Überlegungen anstellte. Den oft rassistischen Blick auf „den Orientalen“ und „die Primitiven“ kann ich ihr damit aber nicht entschuldigen. Beauvoir macht zu Beginn schon deutlich, dass sie mit „der Frau“ eben ein soziales Konstrukt meint und nicht ein biologisches Geschlecht. Dennoch schließt sie mit ihrer Schilderung „der Frau“ viele (biologische) Frauen aus. Besonders in ihrer Beschreibung der Ehefrau berücksichtigt sie eigentlich nur Frauen, die die relativ privilegierte Stellung haben, sich auf den Erwerb des Mannes verlassen zu können und auch als Kinder in einer relativ sorglosen Situation aufwachsen konnten. Historisch betrifft das sicher nur einen recht kleinen Teil der Frauen.
Trotz dieser Kritikpunkte ist Das andere Geschlecht aber ein sehr lesenswertes und für mich auch überraschend lesbares Buch. Dennoch habe ich ewig gebraucht, fast vier Monate. Ein Buch für den Feierabend ist es dann eben doch nicht. Viele ihrer Gedanken und Thesen sind bis heute aktuell und Teil der Feminismus-Debatte geblieben. Interessant ist dabei, dass Beauvoir sich zum Zeitpunkt des Schreibens selbst nicht als Feministin sah. Wenn sie von „den Frauen“ spricht, meint sie sich selbst offenbar nicht mit. Erst in den 70ern begann sie, „wir“ zu sagen, wenn sie „die Frauen“ meinte. Auch wenn Beauvoirs Ideen nicht mehr neu und aufsehenerregend sind, ist dieses Buch noch immer interessant und an vielen Stellen auch einfach wirklich gut geschrieben und nicht im geringsten trocken.
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt 2016. 941 Seiten, € 16,-. Originalausgabe: Le Deuxième Sexe. Libraire Gallimard 1949.
Das Zitat stammt von S. 240
Liebe Marion, das ist nun wirklich d e r Klassiker unter den feministischen Essays und ich denke, genau so ist das Buch auch heute noch zu verstehen. Mit allen Anregungen zu einer anderen Perspektive, mit aller Kritik an der Geschichte und den Verhältnissen, ist es ein Buch seiner Zeit, das als einer der wichtigsten Impulsgeber in die Geschichte des Feminismus eingegangen ist. Aber an vielen Stellen wirken die Ableitungen für uns heute überholt oder durch bessere Interpretationen ersetzt, und du hast recht, der rassistische Blick – trotz der vielen Reisen um die Welt und der politischen „sozialistischen“ Ansicht – ist immer wieder spürbar. Ich glaube, man kann sich heute davon nicht mehr die großen AHA- Erlebnisse erhoffen, aber als ein Meilenstein in der Geschichte des Feminismus ist es unverzichtbar. Danke für deine gute Besprechung und die Erinnerung an dieses Buch! Dagmar
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Das würde ich jetzt mal so unterschreiben. Ankreiden kann man ihre Sichtweise, die teilweise rassistisch geprägt ist- damals sicherlich nicht unüblich -, dennoch kann sie nichts für ihre Herkunft und war sich ihres Glücks bzgl. Geld und vor allem Bildung sehr bewusst. Ohne diesen waren Klassiker hätte es viele Entwicklungen nicht gegeben. Er ist nach wie vor ein Meilenstein, den man jungen Frauen auf jeden Fall ans Herz legen sollte – Männern auch – um zu verstehen, dass die Möglichkeiten, die sie heute haben, schwer erkämpft wurden und es leider immer noch weiteren Kampfes bedarf, um diese zu erhalten und auszubauen. LG, Bri
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Ich finde auch, dass sie mit ihrer Herkunft sehr reflektiert umgeht. Die Lebensrealitäten, die sie darstellt, gelten dennoch nur für einen Teil der Frauen, aber es ist auch schlicht nicht möglich, in einer Darstellung dieser Art auf jede Eventualität einzugehen. Zumindest nicht, wenn man unter zehn Bänden bleiben möchte.
Ein wichtiges Buch und ein Meilenstein ist es aber natürlich trotzdem und wird es wohl auch bleiben. Wie Dagmar oben schreibt, bleiben die großen Aha-Momente aus, aber vieles drückt Beauvoir so treffend und präzise aus, dass es mir sehr weitergeholfen hat, sowohl im Verstehen als auch im Ausdrücken.
Sehr interessant fand ich zu sehen, wie einige Debatten noch so viele Jahrzehnte später beinahe unverändert weitergeführt werden und sich nicht von der Stelle bewegen wollen, während anderes sich zum Glück schon sehr geändert hat. Aber daran werden wir noch arbeiten müssen 🙂
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Ja, das ist das eigentlich Erschütternde: manches hat sich keinen Millimeter bewegt und für manches ist, obwohl es als Missstand empfunden wird, ist das Bewusstsein für den Diskurs verschwunden. Insofern auch eines der ganz wichtigen Bücher, denn wenn man die Geschichte dieses Diskurses nicht kennt, kann man ihn nicht fortsetzen.
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Liebe Marion,
Ich habe bisher nur Auszüge aus Le deuxieme sexe gelesen, aber deine Rezension bestärkt mich darin, dass ich irgendwann im Leben einmal das komplette Buch lesen will. Sehr schön geschrieben!
VG Jennifer
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Ich danke – und ja, unbedingt! Es lohnt sich.
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