Annie Proulx: Accordion Crimes

Im späten 19. Jahrhundert baut ein Akkordeonbauer, einer der besten im Land, auf Sizilien ein grünes Akkordeon. Er lebt mit seiner Familie in ärmlichen Verhältnissen und die schwärmerischen Briefe eines ausgewanderten Cousins lassen ihn in immer mehr von einem besseren Leben in „La Merica“ träumen. Schließlich wagt er den Versuch, mit Sohn und grünem Akkordeon die große Reise anzutreten. Seine Frau soll später nachreisen, doch dazu kommt es nicht mehr. Nach nur wenigen Monaten in New Orleans wird er von einem (historisch verbrieften) Lynch-Mob ermordet.

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Sein Akkordeon, das die Grundlage seines neues Lebens werden sollte, macht sich ohne ihn auf die Reise und durchquert diverse Trödelläden, ein ganzes Jahrhundert und fast die kompletten USA. Dabei gerät es immer in die Hände von Einwanderern oder deren Nachkommen. Deutsche, Iren, Kanadier, Polen, Mexikaner – sie alle können mit diesem Instrument etwas anfangen. Dass die Besitzer oft ein schweres bis tödliches Schicksal ereilt, kann man dem Akkordeon kaum anlasten. Denn die meisten der porträtierten Einwanderer haben auch vor der Begegnung mit dem Instrument alles andere als ein leichtes Leben und schlagen sich geradeso durch. Es sind die „huddled masses yearning to breathe free“, die tatsächlich ihren Weg ins Land gefunden haben und den amerikanischen Traum längst ad acta gelegt haben.

„It is not easy to remain yourself, to keep your dignity and place, in a foreign country.“

Die Geschichten, die Proulx in diesem Buch erzählt sind schlüssig, humorvoll, überraschend und überzeugend in der Charakterisierung der Figuren. Allerdings hatte ich ernsthafte Schwierigkeiten, dieses Buch als Roman zu lesen. Das einzige verbindende Element der Geschichten ist das Akkordeon. Vielleicht noch die Musik, die damit produziert wird, aber auch die unterscheidet sich so sehr, dass sie kaum als gemeinsames Merkmal betrachtet werden kann. Das hat es mir sehr schwer gemacht, das Buch zu Ende zu lesen. Einige Erzählungen haben mir gut gefallen, andere weniger, aber sobald das Akkordeon, auf welchem Weg auch immer den Besitzer wechselte, gab es einen massiven Bruch. Auf Dauer habe ich das als sehr ermüdend empfunden.

Zudem ist die Akkordionmusik aus offensichtlichen Gründen ein nicht zu unterschätzender Schwerpunkt des Romans. Zugegeben, ich habe eine Menge gelernt über ein Instrument, dass ich bisher primär bayerischen Polka-Kapellen und französischen Straßen-Musikern zugeordnet hatte. Oft war das ganz interessant und zumindest Zydeco war mir als Musikstil bis dahin völlig unbekannt. Großer Fan bin ich jetzt trotzdem nicht und manchmal wurden die detaillierten Beschreibungen auch schlicht zu viel. Auch im Roman lässt die Begeisterung für das Akkordion im Laufe der Jahre spürbar nach. Am Ende sind es nur noch wenige Enthusiasten, die sich für traditionelle Musik begeistern können. Die letzte Besitzerin, die zumindest in jungen Jahren noch Polka-Fan war, lässt das grüne Akkordeon, da schon nicht mehr spielbar, für die coolere Musik ihrer Freundinnen links liegen. In seiner Vernichtung aber, das ist nicht zu viel gespoilert, bringt das Akkordeon einer armen Familie noch den unerwarteten Segen, der seinem Erschaffer hundert Jahre früher verwehrt blieb.

Accordion Crimes ist ein gut und mit viel Feingefühl geschriebenes Buch. Es hat eine gute Balance aus Tragik und Humor, die einzelnen Geschichten sind packend. Aber ich habe große Schwierigkeiten, darin einen guten Roman als Gesamtwerk zu sehen. Hätte man Short Stories aufs Cover geschrieben (und ein paar musikalische Ausführungen gestrichen), ich wäre weit glücklicher gewesen.


E. Annie Proulx: Accordion Crimes. Scribner 1997. 432 Seiten, ca. €13,-. Originalausgabe Scribner 1996. Deutsche Übersetzung von Wolfgang Kreke unter dem Titel Das grüne Akkordeon lieferbar bei btb.

Das Zitat stammt von S. 293

Der Roman war 1997 für den Orange Prize nominiert. Diese Besprechung ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.