Als Zhuang in London den Flieger verlässt, könnte der Kulturschock größer kaum sein. Sie ist die Tochter chinesischer Bauern, die nach jahrelanger harter Arbeit eine Schuhfabrik eröffnen konnten. Ihre Tochter soll bessere Chancen haben als sie und so schicken sie Zhuang nach England, wo sie ein Jahr lang einen Sprachkurs besuchen soll. China hat sie bis dahin nie verlassen, englische Sprachkenntnisse hat sie fast gar nicht. Mühsam tastet sie sich heran, liest sich durch ihr Wörterbuch, schreibt Wort für Wort in ihr Notizbuch, das sie am Ende des Jahres gefüllt haben will.
„Ich bin erbärmliche Mensch, spreche erbärmliche Englisch und komme aus erbärmliche kleine Stadt in Südchina. Wir kennen dort nicht edel.“
Sie traut sich kaum, das Hostel zu verlassen, hadert mit dem ungemütlichen Wetter und findet das Essen, vor allem das Frühstück, im Grunde ungenießbar. Rettung findet sie in Kinos, wo sie die unterrichtsfreie Zeit in Doppelvorstellungen von Hollywood-Klassikern totschlägt. Dort lernt sie eines Tages einen Mann kennen, der ihr schön und interessant erscheint. Er lädt sie zu sich nach Hause ein, sie missversteht und glaubt, es sei für immer.
Der Roman ist aus Zhuangs Perspektive erzählt, die sich jetzt nur noch Z nennt, da ohnehin niemand ihren Namen behalten oder aussprechen kann. Ihren Freund nennt sie immer nur „du“, als Leserin erfährt man seinen Namen nie. Langsam tastet Z sich durch ihr neues Leben und versucht, die Dinge zu verstehen. Dennoch kommt es oft zu Missverständnissen, die oft ganz witzig, zumindest aber charmant sind. Die Reise nach Europa wird für Z vor allem eine Reise zum Erwachsensein, die Orte, die sie dafür besucht, bleiben für sie gleichgültig und austauschbar. Für sie ist das okay. Sie fühlt sich nicht verpflichtet, ins Louvre zu gehen, nur weil sie gerade in Paris ist. Sie hat keine Lust auf Museum, sie fühlt sich einsam, sie reist gleich wieder weiter. Auch wenn sie vielleicht nie wieder die Chance bekommt, Paris zu sehen.
Der Mann, an den sie gerät, ist ausgerechnet ein freiheitsliebender Künstler, der so gar nichts mit ihrer verzweifelten Suche nach Sicherheit anfangen kann. Der Austausch der beiden über Liebe und Familie ist fruchtlos, aber zumindest interessant, denn es treffen zwei sehr verschiedene Sichtweisen aufeinander. Während Z einen Weg in den Westen sucht, öffnet sie so auch einen Blick Richtung Osten. Gut gelöst und auch in der Übersetzung gut umgesetzt ist die langsame Entwicklung von Zs Sprachkenntnissen. Am Beginn sind die Sätze noch kurz, abgehackt und unbeholfen. Im Laufe des Romans, der das Jahr ihres Aufenthalts abdeckt, wird sie immer besser, lernt immer komplexere Wörter und Konzepte.
Der Ton des Romans ist bei allem Charme allerdings ein recht trister. Z wird nicht so richtig warm mit ihrer neuen Lebensphase, weiß nicht, wohin mit sich, wie es weitergehen soll, was sie will, was sie sich trauen kann. Diese einmalige Reise wird kein fulminanter, aufregender Trip durch Europa sondern eine unsichere Liebesbeziehung in Hackney. Aus diesem Gefühl der Schwebe, der Unsicherheit, lässt die Autorin einen auch nicht raus. Es ist eine interessante und außergewöhnliche Erzählstimme, die Guo für ihre Protagonistin gefunden hat. Eine stille und bescheidene, die keinen Hehl aus ihrer Unsicherheit macht und ihre Verletzungen nicht verschweigt. Vor allem in Reiseberichten ist das ja nun eher die Ausnahme.
Xiaolu Guo: Kleines Wörterbuch für Liebende. Übersetzt von Anne Rademacher. KNAUS 2014. Gelesen als eBook mit 267 Seiten. Eine neue Taschenbuchausgabe ist 2017 bei Penguin erschienen. 368 Seiten, € 10,-. Originalausgabe: A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers. Chatto & Windus 2008.
Das Zitat stammt von S. 70
Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
Guo war mit diesem Buch 2007 auf der Shortlist des Orange Broadband Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Huhu 🙂
Das klingt nach einem netten Buch, dem vllt ein Spritzer Aufregung geholfen hätte. Die Geschichte an sich klingt aber sehr interessant – danke fürs Vorstellen! 🙂
Liebe Grüße!
Gabriela
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Ich habe das Buch 2010 gelesen und mochte es. Weil ich diese junge Frau unkonventionell und sehr ehrlich fand. Die Liebe unerklärlich und doch stark, das traurige Ende komischerweise tröstlich. Mir hat nicht das alles ungemein imponiert. Große Gefühle, alles neu und gleichzeitig so eine Ruhe bei allem, eine Achterbahnfahrt mit angehaltenem Atem oder so. Ich will schon die ganze Zeit noch einmal reinlesen. Das werde ich jetzt tun. Danke für die Anregung!
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Das ist sehr schön zusammengefasst!
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