Kurz nach Kriegsende ist Evelyn Sert auf einmal Waise. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, ihre Mutter, die in einem Friseursalon gearbeitet und ihr das Handwerk beigebracht hat, verstirbt plötzlich. Sie ist Jüdin und das eröffnet ihr nun plötzlich die Perspektive, ins neue gelobte Land Palästina auszuwandern, damals noch Britisches Mandat.
Doch der erhoffte begeisterte Empfang bleibt aus. Sie kann nichts, was im neuen Land gebraucht wird und landet erstmal im Kibbuz. Mühsam versucht sie, sich in die ungewohnte Gemeinschaft einzugliedern, und begreift schnell, dass sie weitaus mehr Britin als Jüdin ist. Zwischen Feldarbeit unter sengender Sonne, Latrinenreinigung und einer unerwiderten Schwärmerei wächst ihre Frustration zusehends. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit packt sie ihre Sachen und reist nach Tel Aviv, der gerade neu entstehenden weißen Stadt am Meer, in der sich ein Bauhaus-Gebäude ans nächste reiht und es bis in die Nacht so warm ist, dass die Leute es nur draußen in den Cafés aushalten. Schnell tut sich aber ein neues Problem auf – Evelyn ist unter falschem Namen und nur als Touristin eingereist. Mit blondierten Haaren und gezupften Brauen wird sie schnell Priscilla Jones, eine Britin, deren Mann als Polizist in Tiberias stationiert ist. Die nötigen Papiere sind mit den richtigen Kontakten kein Problem.
Aber dieser richtige Kontakt wird bald zum Problem. Hals über Kopf hat Evelyn sich in eine Affäre mit „Johnny“ gestürzt, dessen echter Name offenbar nichts zur Sache tut und vor dem ihre Nachbarinnen bald warnen. Sie vermuten in ihm einen zionistischen Terroristen der Irgun, deren Ziel es ist, die Briten mit Waffengewalt aus dem Land zu vertreiben und endlich den erhofften jüdischen Staat aufzubauen.
„It was not just me, all of us who arrived, leaving behind a homeland somewhere else and finding this new, unfamiliar homeland, were making history in our own way.“
Evelyn schlägt alle Warnungen in den Wind und verliebt sich nicht nur in den Mann, sondern auch in das Land. Sie ist fasziniert von dieser heterogenen Gesellschaft, die nun eine Gemeinschaft werden soll, vom Dreck, vom Chaos, vom Meeresrauschen, von der Hitze. Sie ist eine gelangweilte, ein bisschen naive Zwanzigjährige, die gar nicht richtig zu verstehen scheint, in was sie da hineingeraten ist und vieles einfach hinnimmt. Manchmal werden dadurch ihre Motivationen und Intentionen undurchsichtig und unklar. Allerdings ist es auch sehr schön zu lesen, wie unbedarft und staunend sie durch das neue Land und in die neue Liebe stolpert, wie man eben nur mit Anfang Zwanzig stolpern kann.
Sehr interessant aber ist Grants Schilderung dieses Staates, der erst noch einer werden muss. All die neuen Bürger waren Jüdinnen und Juden, das ist aber als kleinster gemeinsamer Nenner eben nicht viel. Und bei weitem nicht alle waren dort, weil sie eine utopische Idee von einem neuen Land hatten, bei dessen Gründung sie dabei sein wollten, sondern schlicht, weil sie sonst nichts mehr hatten. Die verunglimpften „Oestjuden“ machen sich in diesem Roman über die ewig schimpfenden „Yekkes“ lustig und alle über die Ewiggestrigen mit ihren Schläfenlocken. Diese Gesellschaft, die eigentlich noch gar keine war, diese Atmosphäre des aufregenden Neuanfangs skizziert Grant als so elektrisierend, dass man wirklich gerne dabei gewesen wäre. Zumindest aber habe ich Tel Aviv auf die Liste unbedingt noch kommender Reiseziele gesetzt.
When I Lived in Modern Times ist ein atmosphärischer Roman, der einen guten Einblick in diese Zeit gibt, in der noch nichts entschieden war und alles auf der Kippe stand, dem man aber manchmal eine etwas differenziertere Protagonistin gewünscht hätte.
Linda Grant: When I Lived in Modern Times. Gelesen in der Ausgabe Granta Books 2000. Lieferbar in der Ausgabe Granta 2001. 260 Seiten, ca. €10,-. Soweit mir bekannt, wurde das Buch nicht ins Deutsche übersetzt.
Das Zitat stammt von S. 117
Ich habe dieses Buch auf komplizierten Wegen als unkorrigiertes Leseexemplar bekommen, das mal an eine Züricher Literaturagentur versendet worden ist. Zu einer Übersetzung allerdings hat das nicht geführt. So weit ich feststellen konnte, ist diese unkorrigierte Fassung aber identisch mit der letztendlich erschienen, auch was die Seitenzahlen angeht.
Linda Grant hat für diesen Roman 2000 den Orange Prize for Fiction bekommen. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Womens‘ Prize for Fiction.