„Wenn ihr die Schönheit im Dreck nicht sehen könnt, dann tut ihr mir leid. Und wenn ihr nicht sehen könnt, warum die Straßen hier was Besonderes sind, dann geht doch nach Hause.“
Saint Mazie ist das Porträt von Mazie Phillips, der „Königin der Bowery“. In New York machte sie sich einen Namen, indem sie über Jahrzehnte den Obdachlosen der Lower East Side half, ihnen Geld gab, zu einem Schlafplatz verhalf oder, wenn nötig, den Krankenwagen rief.
Viel bekannt ist nicht über diese ungewöhnliche Heilige, die ihre Taten nicht als etwas sah, das außergewöhnlich gewesen wäre oder gar für die Nachwelt festgehalten werden müsste. Viel mehr als einen New Yorker-Artikel aus dem Jahr 1940 und einen Nachruf von 1964 findet man online nicht. Selbst ohne Kinder oder andere Familienmitglieder, die sie zu versorgen gehabt hätte, konnte sie das Geld ebenso gut denen geben, die es brauchten, so ihre Meinung.
Aus den wenigen bekannten und vielen fiktiven Fragmenten konstruiert Attenberg einen Roman, zusammengesetzt aus Tagebucheinträgen, die von 1907-1939 reichen, Bruchstücken einer Biographie und Gesprächen mit Menschen, die eine Erinnerung an Mazie oder die Familie Phillips haben.
Geboren in Boston (im Roman 1897, wahrscheinlich aber früher) wächst Mazie als mittlere von drei Schwestern auf. Die Familie ist ein Trümmerfeld, der Vater gewalttätig, die Mutter zerbrochen an seinen Grausamkeiten. Die ältere Schwester Rosie heiratet jung und reich und zieht nach New York, wohin sie ihre Schwestern Mazie und Jeannie bald nachholt. Mazie ist begeistert vom freien Leben in der Metropole. Sie pfeift auf alle Konventionen, verdreht Köpfe und bricht Herzen. Bis ihr Schwager Louis sie schließlich dazu verdonnert, an der Kasse seines Kinos Venice zu sitzen.

Erst ist sie entsetzt, dort den ganzen Tag eingesperrt zu sein, aber dann entwickelt sie Spaß daran, so viele Menschen zu sehen und das Leben auf der Straße zu beobachten. An diesem Ort trifft sie auch ihren ersten „Fall“, die drogensüchtige Nance, die sie um Geld anbettelt, um ihre Kinder zu ernähren. Schockiert von den furchtbaren Lebensumständen nimmt Mazie es auf sich, den Menschen des Viertels zu helfen, viele Jahre mit Hilfe ihrer ungleichen Freundin Te, einer Nonne. Spätestens zur Zeit der Wirtschaftskrise ist ihre Hilfe an allen Ecken und Enden gefragt, das Kino öffnet sie gegen allen Widerstand für Menschen, die sich nur ein paar Stunden aufwärmen möchten. Darüber hinaus muss sie sich auch um Schwester Rosie kümmern, die über ständigen Verlustängsten den Verstand zu verlieren droht und sich um Jeannie sorgen, die als Tänzerin durchs Land tourt.
Bei alldem vergisst sie aber sich selbst und den Spaß am Leben nicht; sie will es sich vor allem „schön“ machen. Dabei ist ihr Flachmann ein ebenso wichtiger und ständiger Begleiter wie ihre Zigaretten, ihre Beziehungen überdauern nur selten ein paar Tage. Während sie allein in ihrem Kassenhäuschen sitzt, ihrer „Zelle“, wie sie sagt, träumt sie von den entlegenen Orten, von denen Schwester Jeannie und On/Off-Liebe Ben ihr Karten schicken. Sie selbst unternimmt aber niemals den Versuch, ihrem beengten Leben zu entkommen.
Ein wenig erinnert sie an Keuns kunstseidenes Mädchen, das immer nur „ein Glanz“ sein will und der Welt gefallen will, allerdings hat Mazie deren bezaubernden Charme einfach nicht. Obwohl der Roman fast ausschließlich von ihr handelt, bleibt sie ziemlich flach, auch wenn man dauernd ihr Tagebuch liest, dem sie, wie sie beteuert, ihre größten Geheimnisse anvertraut. Sie macht es nämlich einfach nicht oder hat vielleicht auch keine. Ihre Taten werden beschrieben, man kann daraus und aus den verschiedenen Quellen schließen, dass sie Mitgefühl für die Benachteiligten empfindet, aber so richtig greifbar wird sie nicht. Ihre Emotionen, ihre Sorgen und Freuden bleiben diffus und oberflächlich. Möglicherweise geschieht das im Namen der Authentizität – was will man denn einer realen Person ins fiktive Tagebuch schreiben, wenn man fast nichts über sie weiß? Auch die befragten (ebenso fiktiven) Personen tragen meist nicht viel bei. Nur wenige von ihnen kannten Mazie persönlich, sie sind Kinder oder Enkel von Mazies Freunden und haben sie nie selbst gesehen. Was will man denn da auch groß sagen. Insgesamt ergibt dieses Fragmente-Puzzle kein schlüssiges Bild, auch wenn die Idee gar nicht schlecht ist.
Am Ende ist Saint Mazie ein Roman über New York und die 1920er. Man liest über die Folgen des Kriegs, die ärmlichen Wohnverhältnisse, die Prohibition, die Veränderung des Stadtbilds und bekommt ein lebendiges Bild dieser Zeit. Man liest auch viel über Mazie Phillips, weiß am Ende aber trotzdem fast nichts über sie, sie bleibt eine abstrakte Figur, die tagsüber an einer Kinokasse sitzt und nach Feierabend den Obdachlosen New Yorks hilft.
Jami Attenberg: Saint Mazie. Übersetzt von Barbara Christ. Schöffling & Co 2016. 384 Seiten, € 24,-. Originalausgabe: Saint Mazie. Grand Central Publishing 2015.
Das Zitat stammt von S. 13
Ich danke dem Verlag für das Zusenden eines Leseexemplars.
Schade. Ich mochte die Middlesteins sehr und war durch das ziemlich poppige Cover auch gleich auf Saint Mazie aufmerksam geworden. Es stand eigentlich auf meiner Wunschliste. Aber ein eindrückliches Bild New Yorks der 20er würde mir vielleicht ja auch schon genügen. Grübel. Chancen hat das Buch bei mir immer noch 🙂
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Die Middlesteins mochte ich auch gern, deswegen habe ich mich auch sehr auf Saint Mazie gefreut. Es ist auch absolut kein schlechtes Buch, ich war ganz gut unterhalten, aber es fehlte eben was. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Mazie mir im Gedächtnis bleiben wird. Aber gut lesbar ist das Buch auf jeden Fall.
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