„Der einzige… Krieg, den du kämpfst… ist der für das, was dir gehört. Du kannst nicht die Lieder von Menschen leben, die deinen Namen nicht kennen.“
Eine der zentralen Figuren des Romans, Odidi, wird in den Straßen Nairobis erschossen, so beginnt der Roman. Seine Schwester Ajany kehrt aus Brasilien zurück um den Leichnam zusammen mit ihrem Vater Nyipir in ihre Heimat im Norden Kenias zu überführen. Ihre Mutter Akai kann den Schmerz nicht ertragen und verschwindet in der Wüste noch bevor das Grab für Odidi ausgehoben werden kann.
In diesem emotionalen Chaos taucht auch noch Isaiah Bolton auf, der mit Odidi im Haus der Familie verabredet war. Er ist auf der Suche nach Spuren seines Vaters Hugh, dem das Haus gehört haben soll. Ajany kennt den Namen nur zu gut – er steht auf der ersten Seite aller Bücher in der Bibliothek und ihre Fragen nach ihm, dem unbekannten Besitzer der Bücher, wurden nie beantwortet. Auch jetzt will Nyipir den britischen Störenfried am liebsten sofort vom Hof jagen, doch Ajany begrüßt ihn als Gast ihres Bruders.
Eine große Hilfe kann sie ihm aber nicht sein, zu sehr ist sie von der Trauer überwältigt und macht sich schließlich wieder nach Nairobi auf um ihren Bruder zu suchen. Sie spricht mit ehemaligen Hochschullehrern, Geschäftspartnern und der Frau, die bald sein Kind zur Welt bringen wird. So setzt sie Stück für Stück ein Bild des Mannes zusammen, der ihr Bruder war. Ein unbestechlicher Idealist, der immer seine moralischen Maximen über Profit und Einfluss gestellt hat. Und der am Ende sterben musste, weil er die falschen Lieder gesungen hat. In den chaotischen Zuständen nach der Wahl 2007 rächt er sich an einem ehemaligen Freund, der ihn und die gemeinsamen Ideale verraten hat, und gerät so in das Visier der Polizei. Auf seiner Flucht wird er erschossen.
Was in diesem Roman zusammengesetzt wird, ist aber nicht nur die Geschichte der Familie Oganda sondern auch die Geschichte des ganzen Landes, beginnend mit Hugh Bolton und seiner Frau Selene, die nach Kenia kommen, als es noch britische Kolonie ist. Der Roman erzählt von der bewegten und blutigen Geschichte Kenias, die den meisten deutschen LeserInnen in diesen Details kaum vertraut sein dürfte und in dieser Intensität schon gar nicht. Er handelt von den brutalen Aufständen 1969 und ihren Folgen, von einem Land dessen Amtssprachen Nyipir zufolge Englisch, Swahili und Schweigen sind. Schweigen über das eigene Leid, über begangenen Verrat, über eigene Geheimnisse und die anderer. Schweigen, das Leben retten kann.
Dieses Schweigen gilt es nun zu brechen. Konflikte werden ausgefochten, es wird gestohlen, geschossen und gebrandschatzt und ein jahrzehntealtes Skelett wird aus seinem Höhlenversteck geholt und endlich begraben in der Hoffnung, dass nun alle Beteiligten Ruhe finden können.
Owuors Stil ist recht außergewöhnlich. Sie schreibt oft in kurzen, abgehackten Sätzen, in denen die Brutalität der Geschehnisse aber überzeugend transportiert wird. Viele Situation sind von Feindseligkeit geprägt und die Gespräche fallen entsprechend knapp aus – kein Wunder in einem Land, dessen dritte Amtssprache Schweigen ist. Manchmal ist es fast mühsam, alle Anspielungen und Zusammenhänge zu verstehen. Es gibt ein Glossar, das die wichtigsten Dinge erläutert, trotzdem habe ich ein paar wikipedia-Artikel gebraucht um hinterher zu kommen. Lesen lässt sich das Buch sicher auch ohne dieses Wissen, dann verpasst man aber die Chance, neben einem wirklich guten Familienroman auch ein eindringliches Zeitdokument zu lesen. Und mal im Ernst – wie viel kenianische Geschichte liest man denn sonst?
Wuoth Ogik heißt das Haus, in dem Ajany und Odidi aufgewachsen sind. Erbaut von Hugh Bolton, benannt von Nyipir, der damals noch sein Diener war. Der Ort, an dem die Reise endet heißt es übersetzt, ein nicht ernst gemeinter Vorschlag Nyipirs, der nach dreieinhalb Jahren Wanderschaft mit Bolton des Reisens überdrüssig war. Im Laufe des Romans verfällt es immer mehr. Jedes aufgedeckte Geheimnis scheint einen Stein mehr aus den Mauern zu lösen bis schließlich fast nichts mehr übrig ist. Das vorletzte Kapitel beginnt mit dem Wort „Abreisewelle“. Der Ort, an dem die Reise endet hat ausgedient und wird zum Ausgangspunkt neuer Reisen.
Am Anfang ist es schwer, in den Text zu kommen. Die vielen ungewohnten Namen und der rapide Schreibstil machen es nicht einfach, einen Zugang zu finden. Am Anfang des zweiten Kapitels war ich schon so verwirrt, dass ich drei Anläufe brauchte um zu verstehen, dass „Kahle Weiden“ nicht noch ein Name ist. Wer sich aber bis dahin durchgebissen hat, wird mit einem beeindruckenden, brutalen aber subtilen Roman belohnt, der wirklich seinesgleichen sucht.
Eine weitere Rezension findet ihr bei buchlese.
Yvonne Adhiambo Owuor: Der Ort, an dem die Reise endet. Aus dem Englischen übersetzt von Simone Jakob. DuMont 2016. 512 Seiten, € 22,99. Originalausgabe: Dust. Alfred A. Knopf 2014.
Zitat: S. 19