Bevor ich mit Wintersons A Gap of Time, dem ersten Teil des Hogarth-Projekts, angefangen habe, wollte ich erst nochmal die Vorlage, „The Winter’s Tale“ lesen. Es ist wirklich, wirklich lange her, dass ich zuletzt Shakespeare gelesen habe und gerade dieses Stück habe ich sogar nie zuvor gelesen. Es ist eines seiner unbekannteren und wird verhältnismäßig selten gespielt. Tatsächlich ist die Story auch etwas merkwürdig. Anscheinend war der Titel für ein zeitgenössisches Publikum Hinweis genug, dass es sich hier um eine etwas verschrobene Geschichte mit Happy End handelt. Das also passiert:
The Winter’s Tale
„but I am sure, `tis safer to avoid what’s grown than question how `tis born.“
Das Stück spielt in Sizilien und Böhmen. Böhmen hat bei Shakespeare eine Küste, das ist wichtig zu wissen. In Sizilien treffen wir auf Leontes und Polixenes, Könige der beiden Länder und befreundet seit Kindertagen.
Polixenes ist nun schon seit neun Monaten zu Besuch bei Leontes und findet, es sei an der Zeit, mal wieder im heimatlichen Böhmen (dem mit der Küste) nach dem Rechten zu sehen. Nein, sagt Leontes, es ist doch gerade so nett, bleib doch noch ein bisschen, wenn ich dich nicht überreden kann, kann es vielleicht meine Frau Hermione. Hermione kann und das sehr schnell. Das macht Leontes misstrauisch und auf einmal ist er sicher, dass Polixenes und Hermione eine Affäre haben. Hermione ist hochschwanger, von wem wohl? Vielleicht von einem gewissen böhmischen König, der seit (Zufall?!) neun Monaten zu Gast ist? Seinem Vertrauten Camillo legt er dies dar und Camillo schwört bei allem, was ihm einfällt, dass die beiden keine Affäre haben. Dennoch beauftragt Leontes Camillo damit, Polixenes bei nächster Gelegenheit zu vergiften. Camillo verspricht dies, verrät den Plan aber in Wahrheit an Polixenes und flieht mit diesem zusammen vor seinem durchgedrehten König nach Böhmen.
Als Leontes dies erfährt, ist er umso mehr von der Richtigkeit seines Verdachts überzeugt, entzieht Hermione den gemeinsamen Sohn Mamillius und lässt sie in den Kerker werfen. Um ein gültiges Urteil zu erhalten, entsendet er zwei Boten zum Orakel von Delphi, nutzt die Zeit aber schonmal, das Vergehen seiner Frau öffentlich zu verkünden, obwohl der ganze Hofstaat vom Gegenteil überzeugt ist. Auch die Geburt der Tochter kann ihn nicht milde stimmen, schließlich hält er sie für einen Bastard und verlangt, dass sie sofort getötet wird. Seine Berater, allen voran Antigonus, können ihn in letzter Minute umstimmen und erreichen, dass das Baby an einem entlegenen Ort ausgesetzt werden darf.
Kaum ist Antigonus mit dem Kind aus der Tür, kommen die Boten aus Delphi zurück. Im Urteil des Orakels wird Leontes als „eifersüchtiger Tyrann“ betitelt und es wird vorhergesagt, dass er keinen Erben haben wird, solange „das Verlorene“ nicht wiederhergestellt ist. In dieser Sekunde stürmt ein Diener auf die Bühne – Prinz Mamillius ist tot, er hat die Entehrung seiner geliebten Mutter nicht verkraftet und ist einer tagelangen Krankheit erlegen. Königin Hermione bricht daraufhin zusammen und stirbt kurz darauf ebenfalls. Zu spät erkennt Leontes, wie falsch sein Handeln war.

In der Zwischenzeit hat Antigonus mit der Königstochter die böhmische Küste erreicht. Im Traum ist ihm Hermione erschienen, die ihm diesen Ort für die Aussetzung vorschlug und ihn bat, das Kind Perdita zu nennen. Er nimmt Abschied von Perdita und wird, bevor es zu rührselig wird, von einem Bären von der Bühne gejagt und getötet. Niemand kann Leontes also sagen, wo seine Tochter ist. Perdita wird bald von einem Schäfer gefunden, der sie in seine Obhut nimmt. Man hat einige Gegenstände bei ihr gelassen, die sie als Angehörige eines Adelshauses kennzeichnen, um dem Finder die Entscheidung leichter zu machen.
15 Jahre später. Florizel, Sohn von Polixenes und somit Prinz von Böhmen benimmt sich seltsam, berichtet der noch immer in Böhmen lebende Camillo dem interessierten Vater. Der Grund: Florizel hat eine völlig unangemessene Beziehung mit der schönen Schäferstochter Perdita. Er will sich mit ihr verloben, ohne Polixenes etwas zu sagen, der erfährt aber von dem Plan, rastet jetzt auch aus, enterbt Florizel und verurteilt den Schäfer zum Tode. Entrüstet verlässt Florizel samt Verlobter das Land und reist auf Camillos Rat und Vermittlung hin nach Sizilien, wo er auf begeisterten Empfang durch den noch immer trauernden Leontes hofft.
Die letzten 15 Jahre hat Leontes damit verbracht, Buße zu tun für das, was er seiner Frau und seinem Sohn angetan hat. Entgegen aller Ratschläge wollte er auch nicht noch einmal heiraten um so die Chance auf einen neuen Thronfolger zu haben. Doch mit der Ankunft Perditas, seiner Erbin, erfüllt sich nun das Orakel auf anderem Weg. Plötzlich stehen auch noch Polixenes und der Schäfer vor der Tür, die von Camillo erfahren haben, wo Florizel und Perdita sich aufhalten. Der Schäfer erklärt, dass Perdita eine Prinzessin ist und zeigt zum Beweis die Gegenstände, die er bei ihr gefunden hat. Da die Schwiegertochter in spe nun doch von Adel ist, hat Polixenes nichts mehr gegen die Verbindung und weil jetzt ohnehin schon alle super-happy sind, erwacht noch eben eine Statue Hermiones zum Leben und die verstoßene Königin weilt wieder unter den Lebenden. Hochzeit, Freude, Vorhang.
Die letzten Zeilen des Dramas lauten „lead us from hence, where we may leisurely each one demand and answer to his part performed in this wide gap of time“, dass also jeder erzählen soll, was er in dieser langen Zeitspanne, die seit dem letzten Beisammensein vergangen ist, getan und erlebt hat.
Jetzt, gute 400 Jahre später, nimmt sich Jeanette Winterson der ganzen Angelegenheit nochmal an und macht daraus einen Roman. Und das sieht dann so aus:
The Gap of Time
„I didn’t start it. I can’t stop it.“
Leo, der sein Geld mit Investitionen und Spekulationen verdient (sein Unternehmen heißt Sicilia) lebt auf großem Fuße mit Frau Hermione (genannt MiMi) und Sohn Milo in London. Dort zu Besuch ist sein Schulfreunde Xeno, der in New Bohemia lebt und mit dem er vor sehr langer Zeit mal eine Affäre hatte. Xeno hat einen Sohn namens Zel, mit dessen Mutter er aber keine Beziehung hat und nie hatte. Der krankhaft eifersüchtige Leo ist überzeugt, dass das Kind seiner hochschwangeren Frau von Xeno sein muss. Folgerichtig schickt er das Kind wenige Wochen nach der Geburt mit seinem Angestellten Tony nach New Bohemia, wo er die kleine Perdita an den richtigen Vater Xeno übergeben soll. Soweit kennen wir das alles.
Auch in diesem Fall geht die Übergabe schief. Tony trifft Xeno nicht an und dunkle Gesellen sind hinter der recht hohen Bargeldsumme her, die er von Leo für diesen kleinen Gefallen bekommen hat. Tony wird getötet und Perdita fällt, samt Geld und Herkunftshinweis, Shep und seinem Sohn Clo in die Hand, die das Geld in ein Seafood-Restaurant, „The Fleece“ investieren. Perdita ist klar, dass sie adoptiert wurde, ist aber in ihrer neuen Familie vollkommen glücklich.
Selbstverständlich finden auch in dieser Adaption Zel und Perdita viele Jahre später zueinander und stellen so ein Band wieder her, dass zwischen Leo und Xeno gekappt wurde.
Wenn auch das Setting grundlegend verändert wurde, bleibt Winterson den vorgegebenen Strukturen und Charakteren weitestgehend treu. Das ist gut umgesetzt, zugleich aber auch die große Schwäche des Romans. Denn so richtig rund sind die meisten Charaktere und viele Situationen nicht. Bei einer Geburtstagsfeier für Shep beispielsweise kommen zum Teil wildfremde Menschen zusammen und führen innerhalb kürzester Zeit Gespräche über den freien Willen und ähnlich tiefschürfende Themen. Wenn das nicht zufällig ein Philo-Studenten-Stammtisch ist, funktioniert das halt leider nicht so richtig. Auch in vielen anderen Szenen scheint das Handeln der Personen nur halbherzig motviert zu sein und vieles „ist halt so“. Man muss beim Lesen wirklich im Auge behalten, dass es eine Shakespeare-Adaption ist, Ms Winterson kann nicht viel machen.
Als Adaption aber ist der Roman wirklich gut gelungen. Winterson konzentriert sich sehr auf den Orakelspruch aus dem Original, dass das Verlorene wiederhergestellt werden muss und spielt auch viel mit dem Konzept von Zeit. Welche Zeit wir erleben und welche wirklich vergeht und was möglich sein könnte, wenn Zeitreisen, auch nur für Minuten, realistisch wären, wie viel man retten könnte, vielleicht sogar ein Leben. Die große Moral bei ihr ist das Vergeben. Denn nichts kann wiederhergestellt werden, nichts kann wiedergefunden werden, wenn Menschen nicht bereit sind, anzuerkennen, dass genug Buße getan wurde und am Ende verzeihen.
„The Winter’s Tale“ hat Winterson ausgewählt, weil die Geschichte für sie, die selbst ein Adoptivkind ist, eine persönliche Bedeutung hat und man merkt der Adaption an, dass sie sich sehr mit dem Stoff auseinandergesetzt hat. Es sei darauf hingewiesen, dass in diesem Buch enorm viel geflucht wird. So viel, dass es selbst mir aufgefallen ist, was einiges ist. Die fuck-Dichte ist wirklich beeindruckend und wer sowas nicht leiden kann, muss was anderes lesen. Zudem würde ich sehr empfehlen, erst das Shakespeare-Stück zu lesen. Es ist ein Drama, es dauert nicht mehr als zwei Stunden und man findet wirklich eine Menge sehr charmanter Anspielungen und Zitate im Roman, die einem entgehen, wenn man nur die Zusammenfassung kennt.
William Shakespeare: „A Winter’s Tale“. Erste Aufführung 1611, im Druck zuerst erschienen 1623. Gelesen in der Ausgabe The Complete Works of William Shakespeare. Ed. John Dover Wilson. Cambridge University Press 1984. pp 320-348. Deutscher Titel: „Das Wintermärchen“. Lieferbar u.a. in der Reclam-Ausgabe.
Jeanette Winterson: The Gap of Time. Penguin 2016. 288 Seiten, ca. € 11,-. Erstausgabe Hogarth 2015. Deutsche Übersetzung: Der weite Raum der Zeit. Übersetzt von Sabine Schwenk. KNAUS 2016. 288 Seiten, € 19,99. Erster Teil der Reihe Hogarth Shakespeare.
Die Zitate stammen aus Akt I, Szene 2 (Camillo) bzw. S. 226.
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