„Your parents are not supposed to be your best friends. There’s supposed to be some element of rebellion. That’s how you define yourself as a person.“
Ich habe sehr lange überlegt, was ich über The Corrections noch sagen soll. Denn ich habe das Gefühl, dass in den 15 Jahren seit Erscheinen alles schon gesagt wurde und zwar mehrfach.
Aber nochmal ganz knapp für alle, die das Buch noch nicht kennen: Enid Lambert wünscht sich, dass noch ein letztes mal alle ihre Kinder und Enkelkinder nach St. Jude im Mittleren Westen der USA kommen, wo sie mit ihrem an Parkinson erkrankten Mann Alfred lebt. Die Kinder Chip, Denise und Gary leben mittlerweile an der Ostküste, Gary ist verheiratet und hat drei Söhne, die beiden anderen Kinder sind derzeit partner- und kinderlos. Nach diesem letzten Weihnachtsfest, so hat Enid es Gary versprochen, verkaufen sie das verwahrlosende Haus und suchen eine Wohnung, die besser für Alfred geeignet ist. Garys Frau Caroline ist aber unter gar keinen Umständen bereit, mitsamt Kindern nach St. Jude zu reisen, weil sie die ganze Familie Lambert für eine Zumutung hält.
Das ist die Grundsituation, vor der sich diverse andere Konflikte entspinnen. Chip scheitert als Drehbuchautor und lässt sich auf sehr zwielichtige Geschäfte in Litauen ein, Denise verliert ihren Job, nachdem sie eine Affäre mit der Frau ihres Chefs hat und Gary versucht alles um seiner Frau zu beweisen, dass er nicht depressiv ist, während Alfred von einem Kreuzfahrtschiff stürzt.
Gelesen habe ich das Buch das erste mal 2003, kurz nachdem es auf deutsch erschienen war und ich eine begeisterte Rezension gelesen hatte. In der taz, glaube ich. Ich war 17 und las klügere Zeitungen als der Rest meiner Stufe, in denen klügere Bücher empfohlen wurden, als der Rest überhaupt ahnen konnte. Es war ein Wunder, dass ich je etwas anderes getragen habe als schwarze Rollkragenpullover. Aber ich hatte einige davon. Also brauchte ich auch ein extra-kluges Buch für die Buchvorstellung im Englisch-Leistungskurs, ging in den Buchladen und bestellte The Corrections. Ich hatte nicht auf die Seitenzahl geachtet. Als ich kam, um das Buch zu holen, wollte ich das natürlich nicht zugeben (wer sagt schon gerne „oh Gott, so dick?!“ wenn er im Buchladen steht, vor allem wenn man klug und 17 ist), kaufte und las es. Und es war eine Tortur. Wie soll man denn auch The Corrections lesen, wenn man „anxiety“ nachschlagen muss? Da scheitert man schon auf den ersten zehn Seiten vier mal. Ich malte ein wirres Personendiagramm inklusive aller unbedeutender Nebenfiguren auf eine Overhead-Folie und stolperte mich durch ein Buch, das ich nur zur Hälfte verstanden hatte. Der Rest des Kurses hatte im wesentlichen die Harry-Potter-Bände unter sich aufgeteilt, der Applaus am Ende war verhalten. Lieber Englisch-LK von Herr Listmann, es tut mir leid, dass ich euch mit dieser Buchvorstellung gequält habe und danke, dass niemand „prätentiöse Bitch“ auf meine Seite in der Abizeitung geschrieben hat.
In diesem Jahr dachte ich nun, mit dem Wissen was „anxiety“ bedeutet, wäre es Zeit, das Buch nochmal zu lesen. An vieles konnt ich mich noch erinnern, vieles war aber auch nur als ein Haufen Verwirrung in meinem Kopf abgespeichert. Was genau Corecktall macht, das Medikament, in das die Lamberts all ihre Hoffnung stecken, hab ich überhaupt erst jetzt kapiert. Und das ist kein kleiner Teil der Handlung. Ich konnte mich allerdings noch sehr gut an die Szene erinnern in der Chip mit Gitanas spricht, der in russichen Gefängnissen gefoltert worden ist. Chip beschreibt sein eigenes Leben in der amerikanischen Gesellschaft als „a different kind of prison“ und ich hatte gerade Sartres Geschlossene Gesellschaft („Die Hölle, das sind immer die anderen“) gelesen und auch nur zur Hälfte verstanden und dachte ‚Chip, wie recht du hast! Das ist der wahrste Satz aller Zeiten!‘. 13 Jahre später denke ich ‚Chip, halt die Klappe, komm klar, such dir mal nen Job der nicht Internetbetrug ist und hör halt auf, Studentinnen zu vögeln‘. Und deswegen muss man für Tätowierungen 18 sein.
Schon bei Erscheinen wurde der Roman in den Himmel gelobt und hat sich in den letzten 15 Jahren zum neuen Standard des amerikanischen Familienromans entwickelt. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich dann nicht so richtig umgehauen war. The Corrections ist zweifelsohne ein sehr guter Roman, aber ich habe in der Zwischenzeit auch eine Tonne anderer amerikanischer Familienromane gelesen, darunter The Position, A Spool of Blue Thread und The Middlesteins, wobei ja die beiden letzteren thematisch auch ziemlich nah an Franzen sind. Und am Ende sind die sich alle sehr ähnlich, schließlich bewegen sie sich ja auch alle im gleichen Mikrokosmos. Sie sind aber auch alle nach Franzen erschienen und hätte ich The Corrections vor 15 Jahren schon verstanden, wäre es vermutlich auch für mich die Offenbarung gewesen, die es für viele war. Möglicherweise hat Franzen den Familienroman wirklich neu erfunden, auf jeden Fall wird es da mal Zeit für einen neuen Goldstandard, es kann doch nicht noch 100 Jahre alles die neuen Buddenbrooks sein.
Bemerkenswert finde ich übrigens, dass auf meiner Ausgabe David Foster Wallace den Lobeshymnen-Platz auf dem Cover bekommen hat. Weil es viel darüber sagt, was David Foster Wallace vor 15 Jahren war und was Jonathan Franzen noch nicht war.
Wer nochmal eine richtige Rezension lesen will, findet diese unter anderem bei der New York Times, dem Guardian und Perlentaucher.
Jonathan Franzen: The Corrections. Fourth Estate 2002.653 Seiten, ca. € 8,-. Erstausgabe Farrar Straus Giroux 2001.
Das Zitat stammt von S. 68
Ich mag es fast gar nicht zugeben, ich habe das Buch noch nicht gelesen… – Vielleicht, weil ich Familienromane nicht so mag? Aber eben, gutes Buch ist gutes Buch. Ich hab’s mir notiert 😉
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Herrlich die Unterschiede zwischen einst und jetzt die du schilderst. 😄 Und ja, Goldstandard Buddenbrocks, an wen muss diese Petition verschickt werden? Ich unterschreibe! Den Roman sollte ich mir auch noch zuführen…😉
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Ich hab es sehr sehr gerne gelesen vor ein paar Jahren – vielleicht werde ich irgendwann nochmal … 😉 Die Buddenbrocks hingegen noch nie ..
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Die Buddenbrooks stehen auf der re-read-Liste für das nächste Jahr. Tatsächlich mag ich Thomas Mann sehr. Schriftstellerisch zumindest. Als ich die Buddenbrooks vor mehr als zehn Jahren zuletzt gelesen habe, war ich ein großer Fan und lag am Ende zwanzig Minuten in Tränen aufgelöst auf dem Bett und habe „ich konnte nicht mal tschüß sagen!“ in die Kissen geschluchzt. Mein Freund sagte, es sei doch nur ein Buch und wir sind jetzt nicht mehr zusammen.
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