Beim Wandern in den norwegischen Bergen stürzt Oliver Sacks sehr unglücklich und sein Quadrizeps reißt ab. Unter großen Schmerzen und mit immer größer werdender Angst, nicht vor Einbruch der Dunkelheit gefunden zu werden, quält er sich in Richtung Tal und wird glücklicherweise von zwei Männern entdeckt und ins Krankenhaus gebracht. Von dort geht es weiter in eine Londoner Klinik, in der seine Verletzung operiert wird. Die Operation verläuft ohne Komplikationen, noch ein paar Wochen Krankengymnastik und ein bisschen Reha, dann ist alles wieder gut. Oder sollte es zumindest sein – doch mit großem Schrecken stellt Sacks fest, dass er sein Bein nicht im geringsten spürt. Weder kann er es bewegen, noch spürt er es, wenn andere Menschen die Position seines Beines verändern oder es berühren.
Der agile Neurologe findet sich schlagartig in der Rolle des Patienten wieder und muss lernen, Geduld zu haben. Denn erstmal nimmt ihn keiner so richtig ernst. Mit seinem Bein sei alles in bester Ordnung, wird ihm unablässig versichert, er müsse eben auch wirklich versuchen, es zu bewegen. Bis Sacks nach dem Unfall aus der Reha entlassen wird, vergehen insgesamt rund sechs Wochen.
Und in dieser Zeit passiert, wenn man mal ganz ehrlich ist, nicht besonders viel. Er hat schlechte Laune, hat Angst, ist frustriert, fürchtet, nie wieder richtig laufen zu können, hat Erfolgserlebnisse und erleidet Rückschläge. Dazwischen hat er viel Zeit, nachzudenken über Nietzsche, die Bibel und Hannah Arendt, über Musik und die Welt an sich. Und das ist leider nicht so besonders spannend. Auch sein Heilungsprozess zieht sich manchmal sehr in die Länge und mir ist klar, dass Sacks darunter sicher mehr gelitten hat als ich und ich verstehe, warum er diese Zeit seines Lebens so minutiös aufgeschrieben hat. Es waren elementare Erlebnisse für ihn, sein Umgang mit seinem Körper und seine fachliche Sicht auf neurologische Prozesse haben sich grundlegend gewandelt, es ist sein Tagebuch einer einmaligen Erfahrung, die ihn sehr viel weitergebracht hat.
Die Essenz aus all dem ist auch tatsächlich spannend, vor allem im letzten Teil, in dem er seine Erlebnisse einordnet in die Gesamtheit vieler anderer Fälle, die seinem ähnlich sind und anreißt, welche Formen der Störungen in diesem Bereich beobachtet wurden und welche Relevanz das für die Neurologie hat. Aber der Rest des Textes hat leider lange, lange Längen, in denen einfach nichts passiert, außer dass Sacks so vor sich hin denkt. Pluspunkte gibt es dabei allerdings für anhaltende Sympathie – so ein netter, reflektierter, kluger Mann!
Oliver Sacks: Der Tag, an dem mein Bein fortging. Gelesen in der Ausgabe Rowohlt 1989. Aktuelle Ausgabe: Rowohlt 1991. 288 Seiten, € 8,99. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Originalausgabe: A Leg to Stand on. Gerald Duckworth & Co 1984.