Bis zur Verleihung des diesjährigen Man Booker International hatte ich, wie ich zugeben muss, László Krasznahorkai überhaupt nicht auf dem Schirm. Macht nichts, kann man nachholen. Das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe, ist also Melancholie des Widerstands.
Die eigentliche Handlung ist schnell erzählt – in einer ungarischen Kleinstadt steht die Welt am Rande des Untergangs. Schon Anfang November sind die Temperaturen ungewöhnlich niedrig, der Unrat gefriert auf den Straßen, die Züge fahren nicht mehr regelmäßig und die Straßenlaternen leuchten nicht mehr. Wer sich nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumtreibt, spielt mit seinem Leben, über der ganzen Stadt hängt eine Glocke der Angst. Dann kommt ein Zirkus in die Stadt, der nicht nur einen ausgestopften riesigen Wal mitbringt, sondern auch einen winzigen Herzog mit fiepsiger Stimme. Dem Zirkus folgt eine Schar bedrohlicher Gestalten, die sich schweigend und düster auf dem Marktplatz versammeln und auf den Befehl des mysteriösen Herzogs warten, der scheinbar nichts will als Zerstörung.
Der Zirkus ist gleich am Anfang da, bis es dann richtig losgeht, dauert es aber eine ganze Zeit. Erstmal stehen alle in stummer Erwartung auf dem Marktplatz rum und man lernt in der Zwischenzeit ein paar Personen kennen, Frau Eszter zum Beispiel und ihren Mann, Schuldirektor a.D. und Valuska, den herzensguten Dorftrottel. Dem, was sie denken und dem, was sie darüber sagen wollen, wird sehr, sehr viel Platz eingeräumt. Vor lauter Kontemplation dauert es unter Umständen ein paar Seiten, bis ein Nagel in der Wand ist – erst muss nämlich dem korrekten Bogen, den der Hammer beschreiben muss, genug Beachtung geschenkt werden. Wo die Personen so viel Platz zum Denken haben, müssen auch die Sätze viel Platz haben und deswegen bekommt jeder noch eine Ausschmückung und noch eine Abschweifung und noch einen Einschub, wäre doch schade, wenn alles schon vorbei wäre. Der erste Satz sieht beispielsweise so aus, damit man gleich weiß, worauf man sich einlässt:
„Als der Personenzug, der die in Frost erstarrten Siedlungen der südlichen Tiefebene von der Theiß bis fast zum Fuß der Karpaten verband, doch nicht einfuhr – trotz der wirren Erläuterungen des ratlos an den Schienen lungernden Eisenbahners und der immer beschwörenderen Versprechungen des von Zeit zu Zeit nervös auf den Bahnsteig tretenden Stationsvorstehers (‚Tja Herrschaften, der hat sich wieder mal verdrückt‘, meinte der Eisenbahner und winkte mit säuerlichem Gesicht hämisch ab) -, setzte sich der Entlastungszug, der lediglich aus zwei nur in sogenannten Sonderfällen verwendbaren, gebrechlichen Holzbankwagen und einer überalterten 424er bestand, erst mit gut anderthalb Stunden Verspätung im Verhältnis zu dem für ihn sowieso nicht gültigen und ohnehin nur annähernd eingehaltenen Fahrplan in Bewegung, damit die Einheimischen, die das Ausbleiben des aus westlicher Richtung erwarteten Zuges mit ziemlichem Gleichmut und zaudernder Ergebenheit hingenommen hatten, doch noch über die restlichen fünfzig Kilometer der Nebenstrecke ans Ziel kämen.“
Und so geht es weiter. Um das ganze noch ein bisschen fieser zu machen, gibt es auch so gut wie keine Absätze, Einzüge oder ähnlichen Firlefanz. Blocksatz an Blocksatz an Blocksatz wird man durch das Buch gezogen. Das funktioniert aber tatsächlich sehr gut. Dadurch, dass man keine Chance hat, irgendwo zu stoppen oder eine Pause zu machen, entwickelt der Text einen Sog, der einen hineinreißt in die apokalyptische Dunkelheit der Stadt. Hinzu kommt, dass Krasznahorkai ganz großartig schreiben kann und seine riesigen Satzmonster mühelos unter Kontrolle hält.
Man muss da eben Lust drauf haben, auch darauf, dass manchmal ein paar Seiten nicht viel passiert, außer dass jemand über die Unendlichkeit des Universums sinniert. Wer sich an diesem „mehr Sprache, weniger Action“ nicht stört, hat hier ein großartiges Buch.
László Krasznahorkai: Melancholie des Widerstands. Gelesen in der Ausgabe Fischer 2011. € 10,99, 451 Seiten. Übersetzt von Hans Skiecki. Deutsche Erstausgabe: Ammann 1992. Originalausgabe: Az ellenállás melankóliája. Magvető Könyvkiadó 1989.