Einen Spagat zwischen Zärtlichkeit und Gewalt legt Fritsch in Zitronen hin – einerseits lässt sie ihren Protagonisten eine Gewalterfahrung nach der nächsten durchleiden, andererseits erzählt sie davon, als sei es die Geschichte eines ewigen Sommers.

Augusts Kindheit ist alles andere ganz glücklich. Er wächst auf in einem kleinen, vollgestellten Haus auf hinter dem Apfelbäume stehen, mit einer Mutter, die gute und schlechte Zeiten hat und einem Vater, der ihm gegenüber wieder und wieder gewalttätig wird. Es ist selten, dass August ohne blaue Flecken ist. In der Schule erzählt er, er sei die Treppe heruntergefallen oder habe andere Unfälle gehabt. Dann, ganz plötzlich, ist der Vater weg. Er verlässt das Haus und kehrt nicht zurück.
Augusts Qualen enden damit aber nicht. Die Mutter ist völlig überfordert und ratlos, wie sie dem Jungen nun begegnen soll. Bis er krank wird. Ein starker Husten, nichts wildes, aber der Beginn eines langen Leidensweges. Denn mit der Krankheit kann die Mutter umgehen. Im Leiden ihres Sohnes findet sie einen Zugang, kann ihn pflegen und trösten. Und das gefällt ihr so gut, dass sie ihren Sohn nie wieder gesund werden lässt. Fortan ist August von einer seltsamen Schwäche geplagt, gegen die kein Arzt Rat weiß, und die ihn so gut wie ständig ans Bett fesselt, ins Haus sperrt.
Nur durch einen Zufall, einen glücklichen Unfall gewissermaßen, kann er der Mutter entkommen und erholt sich beinahe so schnell, wie er krank geworden ist. Zumindest körperlich. Durch seine lange Erkrankung hat er große Teile seiner Jugend isoliert im Kinderzimmer verbracht und das macht sich bemerkbar. Sein Sozialverhalten ist auffällig, fast beinahe zwanghaft lügt er über seine Herkunft und Vergangenheit. Die meisten seiner Beziehungen sind oberflächlich und von kurzer Dauer. Als er seine große Liebe endlich findet, klammert er sich verzweifelt an sie und verwechselt Eifersucht mit romantischen Gesten. Aufmerksamkeit, das hat er im Krankenbett gelernt, bekommt man am leichtesten, wenn man leidet. Und das kann er.
Fritsch teilt Zitronen in zwei Teile: Die Kindheit und Jugend von August und die späteren Jahre, die er als Erwachsener in einer nicht näher benannten Stadt verbringt. Der erste Teil ist vor allem ein spannendes Psychogramm der Mutter, die recht offensichtlich am Münchhausen-Stellvertretersyndrom leidet. Die vorgebliche Krankheit ihres Sohnes ist ihr Weg zu Anerkennung und Liebe und ihr Schutz vor der Außenwelt. An ihm kann sie zeigen, wie fürsorglich und aufmerksam sie ist, wie stark sie ist, dass sie sich nicht von der rätselhaften Krankheit des Jungen in die Knie zwingen lässt.
Der zweite Teil, fern der Mutter, liest sich anders, weniger konkret und fast traumgleich. In Teilen erinnert der Text darin an Winters Garten. Er dreht sich vor allem Augusts erste und große Liebe, die er in seinem neuen Leben kennenlernt. Mit seinem vorherigen Leben hat er, so glaubt er zumindest, nichts mehr zu tun. Im Dorf seiner Kindheit war er nie wieder, zur Mutter besteht ebenfalls kein Kontakt mehr. Es dauert, bis er sich wieder erinnern mag, dass es ein vorher gab, dass er nicht auslöschen kann, egal, wie viele Geschichten über sein Leben er erfindet.
Fritsch hat im Grunde einen sehr von Gewalt geprägten Roman geschrieben, dem man das aber nicht sofort anmerkt. Dabei sind nicht nur Vater und Mutter ihrem Sohn gegenüber auf unterschiedliche Arten gewalttätig, auch außerhalb der Familie sieht sich August immer wieder mit Gewalterfahrungen konfrontiert. Ein Mädchen, dass auf dem Dorf verschwindet, die Geräusche häuslicher Gewalt, die durch die dünnen Wände seiner städtischen Wohnung dringen, die Geschichte eines Mordes, die ein Bekannter ihm erzählt. So konkret diese Schilderungen mitunter sind, so vage und traumgleich bleibt das Außen, ob im elterlichen Apfelgarten oder in der abgewohnten Atelier-Wohnung der späteren Liebe. Der Roman ist intensiv, in Handlung und Ton, was ihn weit umfangreicher erscheinen lässt, als er tatsächlich ist. Trotz des vorherrschenden Themas der Gewalt liest er sich aber nie brutal. Es besteht immer eine Distanz zu dem Geschilderten, für die Lesenden, aber auch für August, der bis zur letzten Seite nicht versteht, wieviel ihm wirklich widerfahren ist.


