In Life After Life lässt Kate Atkinson ihre Protagonistin Ursula ein Leben nach dem anderen führen. Wann immer sie stirbt, wird sie einfach ein weiteres Mal geboren und fängt gewissermaßen von vorne an. Kleinste Entscheidungen, die sie im nächsten Versuch anders trifft, ändern ihr Schicksal und das anderer, verkürzen und verlängern Leben. Ein besonders schwerer Punkt, an den sie in mehreren Leben kommt, ist das „Veal à la Russe“, eine Kreation der Haushälterin Mrs Glover, die sie immer wieder stolz serviert, obwohl die Resonanz zumindest verhalten ausfällt. Direkt nach der grauenhaften Buddenbrook’schen Specksuppe ist dieses Gericht wohl da am meisten geschmähte, von dem ich je gelesen habe. Ursulas Bruder Jimmy sagt, es sähe aus wie Hundefutter und Mrs Glover erläutert beim Servieren verschnupft, worum es sich handelt:
‚Veal cutlets à la Russe‘, Mrs Glover said as she put a large white china dish on the table. I’m only telling you because last time I cooked it, someone said they couldn’t begin to imagine what it was.“
S. 384
Einmal aber immerhin rettet das Abendessen ein Menschenleben: In einem von Ursulas Leben kommt während des Essens ein Nachbar ins Haus, der seine kleine Tochter vermisst. Argwöhnisch beäugt er die unappetitlichen Fleischstücke auf den Tellern. Bereitwillig lassen alle das Abendessen stehen und helfen ihm bei der Suche, können aber nur noch die Leiche seiner Tochter finden. In einem späteren Leben löst allein der Begriff „veal à la Russe“ in Ursula eine schreckliche Ahnung aus, noch schrecklicher, als das Gericht ist. Einem Impuls folgend tritt sie auf die Straße und trifft dort die Nachbarstochter, die sie sicher nach Hause begleitet. Ein heruntergekommen wirkender Fremder grüßt im Vorbeigehen durch zusammengebissene Zähne.
Was genau dieses grauenhafte Kalbsgericht nun ist, darüber schweigt das Buch. In einer Szene beschreibt Atkinson Mrs Glover beim energischen Klopfen von Schnitzeln, aber mehr erfährt man darüber nicht. Unter dem Begriff „à la Russe“ findet man alles von panierten Schnitzeln mit Meerrettich über verschiedene Sahne-Saucen mit und ohne Bohnen und diverse Kreationen, die mehr oder weniger deutlich an Boeuf Stroganoff erinnern. Ich bin nicht die erste, die von dieser Frage umgetrieben wird: Rebecca Selman von From Page to Plate hat sich schon vor Jahren für eine Julia-Child-Interpretation entschieden und man findet auch öfters Verweise auf ein historisches Kochbuch. Ich habe mich für eine der Stroganoff-Abwandlungen entschieden – das erschien mir sicher genug, um nicht ein Pfund Kalbfleisch wegwerfen zu müssen und erzielt mit nur wenig Mühe die optische Vorgabe, wie Hundefutter auszusehen. Heute gibt es also Kalbsschnitzel mit einer Pilz-Sahne-Sauce und sauren Gurken. Und so geht’s:
Veal à la Russe
für 4 Personen
- 4 Kalbsschnitzel à ca. 120 Gramm
- 4 EL Mehl
- 5 EL Butter
- 700 g gemischte Pilze
- 4 Zwiebeln
- 4 Knoblauchzehen
- 2 EL mittelscharfer Senf
- 200 g Saure Sahne
- 150 g Sahne
- 200 ml Rinderbrühe
- 12 Cornichons
- 1 TL Thymian, gehackt
- 2 EL Petersilie, gehackt
- Salz, Pfeffer
Als Beilage passen Schwenkkartoffeln ganz gut, Boeuf Stroganoff wird oft aber auch mit Kartoffelpüree serviert.
Im Ofen bei ca. 70°C eine Servier- oder flache Auflaufform warmstellen.
Die Pilze putzen und, je nach Sorte und Größe, in mundgerechte Stücke schneiden. Die Zwiebel schälen und fein würfeln, den Knoblauch ebenfalls schälen und fein hacken. Die Cornichons fein würfeln. In einer Pfanne 2 EL Butter schmelzen. Zwiebel und Knoblauch in die Pfanne geben und dünsten, bis die Zwiebel glasig wird. Anschließend die Pilze dazugeben und weitere 5 Minuten dünsten. Mit der Brühe ablöschen. Kurz aufkochen lassen, dann niedrige Hitze reduzieren. Senf und Sahne zugeben, alles gut verrühren und ca. 15 – 20 Minuten köcheln lassen.
In der Zwischenzeit die Schnitzel sehr flach klopfen und von beiden Seiten salzen. Das Mehl auf einen großen Teller geben und die Schnitzel von beiden Seiten darin wenden. Die übrige Butter in einer Pfanne erhitzen und das Fleisch von beiden Seiten anbraten.
Die fertigen Schnitzel in die Auflaufform geben, den Bratensaft darüber geben und alles wieder in den Ofen stellen.
Die Saure Sahne, Cornichon-Würfel, Petersilie und Thymian unter die Sauce ziehen. Mit Salz und Pfeffer abschmecken.
Die Form aus dem Ofen nehmen, die Sauce möglichst unappetitlich über dem Fleisch verteilen und servieren. Voilá: Kalbsschnitzel à la Mrs Glover.
Ich gebe zu, skeptisch gewesen zu sein. Der Roman tut nichts, um einen für dieses Essen zu begeistern. Allerdings wurde ich positiv überrascht. Die saure Komponente war mir fast ein bisschen viel, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es das schlechteste sein soll, was Ursulas Familie jemals gegessen hat. Schließlich hat Mrs Glover auch schon das Lieblingshuhn der Kinder serviert.
Die Zitate stammen aus: Kate Atkinson: Life after Life. Black Swan 2013. 621 Seiten.
Dieser Roman hatte schon zwei weitere Auftritte bei „Essen aus Büchern“, mit Jam Roly Poly und Boeuf Bourguignon. Die Rezepte und noch viel mehr Essen aus Büchern gibt es bei schiefgegessen.
Faszinierend wie du den Zeitgeist triffst. Wird in der letzen Zeit nicht alles Russische möglichst unappetitlich serviert? Bei YouTube gibt es ein älteres Couplet „Stroganoff“ von Tim Fischer zu hören, das eine sehr unappetitliche Geschichte über die Entstehung des Gerichtes erzählt. Dürfte dir gefallen. 😊
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Meine Güte, Tim Fischer! Den hatte ich ja fest vergessen. So um 2004 war ein Freund großer Tim Fischer-Fan und im Auto lief quasi nichts anderes. Eine sehr schöne Erinnerung und eine sehr schöne Geschichte über Stroganoff, ich danke.
Diesen Beitrag hatte ich auch eigentlich schon für April geplant, dann den Zeitpunkt für ungünstig befunden und abgewartet und abgewartet… Nun musste ich einsehen, dass der Zeitpunkt in absehbarer Zeit nicht günstiger werden wird und das Kalb wird auch nicht besser. Also raus mit dem unappetitlichen Beitrag.
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