Taxifahren ist für Shohre viel mehr als nur ein Job. Seit sie ein junges Mädchen war, war es ihr Traum, den ganzen Tag mit ihrem eigenen Auto durch ihre Heimatstadt Kermānschāh zu fahren, Menschen, ihr Gepäck und ihre Geschichten von einem Ort zum anderen zu bringen. Trotz der Unterstützung durch ihren Vater wäre der Traum fast gescheitert.
Jung hat Shohre Hamed geheiratet, der von ihrer Idee nicht sehr begeistert war. Hamed hatte sich eine moderne Frau gewünscht, aber schnell muss Shohre feststellen, dass er mit „modern“ vor allem die Kleidung und andere Äußerlichkeiten meint. Auf eine Frau, die jeden Tag ihr eigenes Geld verdient, noch dazu in einem Taxi, hat er keine Lust. Deshalb lebt Shohre jetzt geschieden zusammen mit ihrer ebenfalls geschiedenen Cousine Mahbube in einer etwas heruntergekommen Wohnung, die Mahbube so gut wie nie verlässt. Stattdessen verkriecht sie sich in ihrem Zimmer, malt und raucht. Ihre Scheidung verkraftet sie deutlich schlechter als Shohre, vor allem da sie ihre Tochter nicht mehr sehen darf, die in der Ehe geboren wurde.
„Du wirfst deine Weiblichkeit weg, wenn du Fahrgäste beförderst. Denkst du etwa, die Männer dieser Stadt lassen zu, dass du dich ihnen vor die Nase setzt?“
Manchmal, wenn sie allein in ihrem Taxi durch Kermānschāhs Straßen fährt, fragt Shohre sich, ob es eine gleichberechtigte Partnerschaft geben kann. Den Männern in ihrer Heimatstadt jedenfalls unterstellt sie eine Bergbauernmentalität, wenngleich sie auch zaghafte Spuren eines gesellschaftlichen Wandels beobachtet. So gibt es seit neustem sogar Taxis, in denen nur Frauen vorne einsteigen dürfen. In ihrem sowieso. Ansonsten aber findet sie, dass Kermānschāh trotz seiner beträchtlichen Größe ein Dorf geblieben ist.
Shohre transportiert nicht nur Fahrgäste, sondern auch ihre Geschichten und zeichnet damit ein Panorama ihrer Stadt. Besonders Frauen sind froh, bei einer Fahrerin einsteigen zu können, und zeigen sich redselig. Das baut sie auf, wenn sie wieder einmal Verachtung von ihren männlichen Kollegen erfährt, die es nicht richtig finden, dass eine Frau Taxi fährt und feixend daneben stehen, wenn sie einen Platten hat und ihren Reifen selber wechseln muss. Verbittert ist Shohre nicht, auch wenn sie allen Grund dazu hätte. Den Herausforderungen ihres Alltags begegnet sie sehr pragmatisch und mit einem gewissen Humor. Sie hat gelernt, sich zu behaupten und lässt jede Anfeindung einfach an sich abperlen. Shohre macht ihr Ding, sollen die anderen doch reden. Nie wieder wird sie sich von einem Mann reinquatschen lassen, das steht für sie fest, auch wenn es durchaus Anwärter auf eine erneute Eheschließung gäbe.
Mit ihrem Taxi schafft Shohre sich einen mobilen Mikrokosmos der Selbstbehauptung, eine Kapsel, in der sie sich unverwundbar durch die Straßen der Stadt bewegen kann. Djahani schildert den Weg ihrer Protagonistin in einem sehr klaren und leichtgängigen Stil und manövriert sie geschickt durch das gesellschaftliche Labyrinth. Durch die ständige Mobilität Shohres und das Romanpersonal, das berufsbedingt immer wieder wechselt, kann Djahani eine große gesellschaftliche Vielfalt abbilden, ohne dass es gekünstelt oder erzwungen wirkt. Ein kluger Kunstgriff, der den Roman geschmeidig durch holprige Straßen gleiten lässt.
tl;dr: Mit ihrer Entscheidung, ihren eigenen Lebensunterhalt als Taxifahrerin zu verdienen, stößt Shohre nicht nur auf Begeisterung. Dennoch steuert sie ihren Wagen erhobenen Hauptes durch die Straßen Kermānschāhs und ins Herz einer Gesellschaft, die schon noch einen Platz für sie schaffen wird. Irgendwann.
Maryam Djahani: Ungebremst durch Kermānschāh. Aus dem Persischen übersetzt von Isabel Stümpel. Sujet Verlag, zweite Auflag 2022. 255 Seiten. Originalausgabe 2019 bei Nashr-e-Markaz Publishing Teheran.
Das Zitat stammt von S. 181.
Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
Mehr Taxifahrerinnen im Iran gibt es in diesem Beitrag über Teheran:
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