Wenige Bücher habe ich in der Schule so sehr gehasst wie Effi Briest. Man hält es offenbar für eine gute Idee, Siebzehnjährige dieses Buch lesen zu lassen, denn immerhin geht es ja um eine Siebzehnjährige. Trotzdem kommt das Buch erstaunlich schlecht an – wer ist Schuld daran? Liegt es an Effi? Am schrecklich langweiligen Baron von Instetten? Oder an Effis Affäre mit diesem furchtbar affektierten Major mit seinem albernen Bart?
An der Geschichte allein kann es jedenfalls nicht liegen, die verkauft sich in jedem Jahrzehnt wie blöd: eine etwas naiv wirkende junge Frau lässt sich auf einen Mann ein, der mehr als 20 Jahre älter ist, heiratet ihn bald darauf sogar. Geld hat er und einen guten Ruf, glänzende Karriereaussichten sowieso. Er führt sie in die Gesellschaft ein, kann ihr aber auf Dauer nicht das bieten, was sie braucht. Zu sehr stellt er seine eigene Karriere in den Mittelpunkt. Laura Müller und Michael Wendler machen damit seit Jahren nicht weniger als zehn Schlagzeilen pro Tag. Hätte Effi Instagram gebraucht? Ich glaube, sie wäre gar nicht unerfolgreich gewesen!
In deutschen Oberstufen scheitert der Roman wohl an seinem wilhelminischen Moral-Korsett, dass völlig zurecht alle für total beknackt halten. Warum muss Effi den alten Instetten heiraten? Welche Mutter verheiratet ihre Tochter mit einem Mann, der eigentlich mal sie selbst heiraten wollte? Warum muss sie immer zu diesen öden Gesellschaften gehen? Und wer zur Hölle hat ein Rondell im Garten? Alles, was diese Leute machen und überhaupt ihre ganzen Lebensentwürfe klangen für mich wie eine schlecht ausgedachte Phantasie-Welt, deren Regeln niemand versteht und die einem auch nicht erklärt werden. Und zumindest mein Deutschunterricht hat es nicht geschafft mir zu erklären, dass es Zeiten und Gesellschaften gab, in denen all das völlig normal war. Das lag vielleicht daran, dass ich das Buch über die Ferien lesen musste und zurückkam und schon einen tiefen, tiefen Hass hatte auf diese dumme Effi und das ganze dumme Buch. Außerdem muss man dauernd Wörter nachschlagen, weil man natürlich nicht weiß, was canna indica ist und was eine Majolikaschale. Und das war, bevor man google auf dem Handy hatte. Meine Deutschlehrerin konnte nicht mehr rechtzeitig intervenieren, das Buch war ruiniert. Der subtile Humor, die leise Gesellschaftskritik, die glänzenden Dialoge, der elegante Stil – Perlen vor die Säue! Erst jetzt, da ich fast so alt bin wie der unfassbar alte Instetten, habe ich Effi eine neue Chance gegeben und was ist es für ein großartiges Buch!
„Instetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht.“
Die siebzehnjährige Effi also heiratet den 21 Jahre älteren Baron von Instetten, der es sicher mal als hoher Beamter in die Hauptstadt schaffen wird, vorerst aber noch im beschaulichen Küstenörtchen Kessin seinen Dienst als Landrat verrichtet. Effi, gewohnt an die stete und quirlige Gesellschaft ihrer Freundinnen, langweilit sich schnell und findet auch so recht keinen Anschluss in der Kessiner Gesellschaft. Ihr Mann glänzt arbeitsbedingt häufig durch Abwesenheit und Effi gruselt sich in dem alten Haus, in dem sie nachts glaubt, Schritte im oberen Stockwerk zu hören. Tatsächlich soll dort ein Chinese spuken, der früher in Kessin gelebt hat. Ihre baldige Schwangerschaft und die Geburt von Tochter Annie erhellen ihre tristen Tage auch nur kurz, denn Annie wird bald in die Obhut eines Kindermädchens gegeben. Neben dem ihr treu ergebenen Apotheker Gieshübler gibt es für Effi nur einen Lichtblick in jenen trüben Tagen: den feschen Major Crampas, der gerade nebst Gattin nach Kessin gekommen ist. Einer Gattin, die nicht halb so entzückend ist wie Effi, natürlich. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander und beginnen schließlich eine riskante Affäre. Erst Jahre später, da leben die Instettens schon in Berlin und Crampas ist so gut wie vergessen, kommt das alles ans Licht, als Geert von Instetten durch einen unglücklichen Zufall alte Liebesbriefe findet.
Für Effi bedeutet das die totale und endgültige gesellschaftliche Ächtung: Instetten fordert Crampas zum Duell und tötet ihn, Effis Eltern lassen sie schriftlich wissen, dass sie in ihrem Haus nicht mehr willkommen ist, Instetten lässt sie ebenfalls schriftlich wissen, dass er sich scheiden lässt und sie ihre Tochter nicht mehr sehen wird. Effis Leben ist in jeder Hinsicht ruiniert. Einsam und mit einer geringen Rente lebt sie in einer kleinen Wohnung, abgeschottet vom gesellschaftlichen Leben, das sie so liebt.
„Damit darf man sich nicht quälen, Effi. Zuletzt ist es doch so: was man empfängt, das hat man auch verdient.“
Recht so, weil sie selber Schuld ist und eine Affäre hatte. Das zumindest habe ich die letzten zwanzig Jahre gedacht, und ich glaube, das wurde mir im Deutschunterricht auch so beigebracht. Ich möchte das aber relativieren. Dieses blauäugige Mädchen hat sich hier nicht selber ins Verderben geritten. Natürlich war das keine sehr nette Sache, aber wenn wir mal ehrlich sind, kann diese Affäre so krass aufregend nicht gewesen sein, die beiden waren ja kaum mal allein. Dann trifft ja auch Crampas mal mindestens die Hälfte der Schuld, es war ja nun nicht Effi, die so peinlich rumgebaggert hat die ganze Zeit. Moralisch ist das ganze sicher trotzdem nicht einwandfrei, aber Instetten macht nicht den Eindruck, als sei er persönlich affektiert und auch generell nicht, als würde diese Ehe ihn so doll interessieren.
Es wusste auch überhaupt niemand etwas von der Affäre, sie ist Jahre her und als einziges Beweismittel bleiben ein paar Briefe – das allerdings kann man Effi vorwerfen, die hätte sie einfach verbrennen müssen, bevor sie ihrem Mann in die Finger fallen. Instetten aber hätte sie auch einfach ins Feuer werfen können und die Sache auf sich beruhen lassen können, denn das einzige Opfer ist sein Stolz und ein tiefer Kratzer in seinem wilhelminischen Wertesystem. Das ist aus heutiger Warte auch sehr leicht gesagt, aber selbst im Roman gibt es genug Leute, die sagen „Geert, mach mal halblang, das interessiert doch jetzt wirklich keinen mehr.“ Aber Geert Baron von Instetten kann nicht halblang machen, dazu ist er zu preußisch. Am Ende klagt sich Effis Mutter selbst an. Ist sie vielleicht schuld, weil sie ihr Kind so früh verheiratet hat, nur weil gerade eine gute Partie da war?
Es sind also alle irgendwie schuld, die das das absurde Moralkonstrukt hegen und pflegen, das sie aneinander bindet und die Gesellschaft formt, in der sie leben. Keine der handelnden Personen ist wirklich frei in dem, was sie tut. Sie alle haben eine Rolle und in dieser bleiben sie bis zum Schlussapplaus. Das betrifft vor allem die Oberschicht und den Adel, dem die meisten Hauptrollen entstammen. Ihre Bediensteten sind natürlich ärmer und an das gebunden, was die Herrschaft ihnen sagt. Trotzdem wirken sie deutlich entspannter als die immer etwas dünnhäutigen Damen in ihren Atlasschühchen. Kein Schritt darf daneben gehen, die Haltung ist in jedem Sinne stets einwandfrei. Die Funktion, die diese Menschen in der Gesellschaft haben, steht über allem. Die Affäre mit Crampas ist das einzige, was Effi jemals für sich entscheiden kann, das einzige, was ihr nicht als der richtige Weg vorgegeben ist. Den Spaß hat sie gehabt. Ob es da das Wert war? Effi immerhin kann am Ende ihren Frieden finden und geht freier, als sie jemals war.
tl;dr: Effi Briest ist nicht so schrecklich wie es alle in Erinnerung haben. Es liest sich einfach deutlich besser, wenn man so alt ist wie der unfassbar alte Baron von Instetten.
Theodor Fontane: Effi Briest. Insel Taschenbuch 2011. 364 Seiten.
Die Zitate stammen von S. 127 und S. 183.
Ja, ich fürchte das ist ähnlich wie bei den Buddenbrooks. Null Nachdenken darüber, dass es Stoffe und Erzählweisen geben könnte, die nicht wirklich jugendgerecht sind und mit deren Vermittlung sich auch die besten LehrerInnen schwer tun.
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Es ist einfach schade drum – schade um einen Text, der mehr Hass bekommt, als er verdient und schade um die Freude am Lesen, die man damit auch nicht fördert. Und es ist ja nicht, als gäbe es nicht genug Texte, die Jugendliche mehr begeistern können, und mit denen man das Schuldthema auch hervorragend verhandeln kann, wenn man es denn unbedingt verhandelt haben will.
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Ja… das gilt in vielen Fällen, fürchte ich. Die Schule hat mich Thomas Mann hassen gemacht. Dann fand ich den Zauberberg.
Nur Goethe scheint immun, selbst gegen die schlimmsten Lehrenden.
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Die Besprechung fällt bei mir auf fruchtbaren Boden. Ich habe Effi Briest in der Schule auch nicht gemocht – auch, wenn das Buch bei Weitem nicht so creepy war wie die anschließend gelesene „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler. Zehn Jahre später habe ich Fontane noch mal eine Chance gegeben und die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und „Frau Jenny Treibel“ sehr gern gelesen. Der feinsinnige Humor Fontanes war an uns Oberstufenschüler auch damals völlig verschwendet. Dafür war die Wiederentdeckung umso schöner – man merkt also doch, dass man älter und weiser wird. 😉
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Völlig verständlich! Bei mir war es Schach von Wuthenow, der Fontane Jahre später für mich gerettet hat. Allerdings war das auch Pflichtlektüre. Aus freien Stücken hätte ich nie wieder was von ihm angefasst.
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Auch wenn „Effi Briest“ tatsächlich zu meinen geschätzteren Schullektüren zählte, so habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass es Sinn haben kann, sich mit einigen Jahren Abstand wieder mal an etwas zu wagen, das man früher nicht mochte.
So habe ich beispielsweise Thomas Mann damals™ für unlesbar gehalten, bin derzeit aber gerade mit Begeisterung dabei, den „Zauberberg“ zu besteigen, und Zeit für den „Doktor Faustus“ ist anschließend auch eingeplant.
Lediglich „Nachdenken über Christa T.“ sowie Wagner-Opern halte ich auch mit fast 25 Jahren Abstand zum Schulabschluss noch immer für absolut ungenießbar. 😉
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Mit Wagner wurde ich erst später konfrontiert, bin aber auch nie mit ihm warm geworden. Mann musste ich zum Glück in der Schule nie lesen – nicht auszudenken, hätte man ihr mir ruiniert!
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Bei meinen großbürgerlichen Berliner Schwiegereltern „las man“ Fontane und fühlte sich dabei so antibürgerlich, als hätte man einen Joint geraucht.
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Das ist wirklich ganz süß!
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Diese Besprechung gefällt mir, viel besser als in der Schule. Ich hatte (damals) beim Lesen die ganze Zeit das Gefühl, es müsse gleich etwas passieren, aber es passierte nichts. Das hat mich irgendwie enttäuscht.
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Genau so ging es mir auch. Dabei passiert ganz viel, man muss es nur finden. Und vielleicht jemanden haben, der einem sagt, wie man es findet.
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Oh man, ich hab mich so in deiner Besprechung wiedergefunden. 😀 Schon bevor das wort „Majolikaschale“ fiel – ich weiß bis heute nicht was das ist. Ich fand die Lektüre von Effie Briest in der Schule genauso fruchtlos und öde.
Heute sehe ich das etwas anders – allgemein was Schullektüre betrifft. Und mit meinem Buchclub (kein Scheiß) kamen wir auch schon öfter zu dem Schluss, dass es nicht so schlecht ist, dass Schule einen zwingt das zu lesen, wenn es denn auch gut vermittelt wird. Das hat Effie damals ein Stück weit für mich gerettet wie so manch andere Bücher. Ich fand es zwar immer noch ziemlich öde, aber schon interessanter als unser Lehrer mit uns durchgekaut, was eigentlich so furchtbar an der Haltung von Effies Eltern ist und warum der Spruch „Das ist ein weites Feld“ ein furchtbares Sich-aus-der-Affäre-ziehen-ist. Von daher bin ich sehr dankbar für die Vermittlung des Stoffs.
Erst heute mit etwas mehr Lebenserfahrung würde ich wohl ganz anders auf Effie, ihre Eltern und den komischen Männerrummel da schauen. Ich fand tatsächlich die deutsche Verfilmung von vor paar Jahren auch ganz gut.
Nebenbei gesagt bin ich immer noch wegen des Chinesens auf dem Dachboden wütend. Das war für mich als Teenie in der Schule auch so ein abstraktes Ding. Davor fürchtet sich Effie, weil es so exotisch ist, hat unser Lehrer uns damals erklärt und ich dachte nur „what? was ist daran exotisch?“ … die Bücher werden wohl in Zukunft weiter noch schwieriger zu vermitteln sein, desto mehr die Gesellschaft voranschreitet (so die Hoffnung!?)
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Ich erinnere mich, dass die Ausgabe, die wir in der Schule hatten, randvoll war mit Anmerkungen und Fußnoten. Das war dem Lesefluss nicht förderlich, aber ich kann dir sagen: Majolika ist eine spezielle Art glasierter Keramik.
Der Chinese allerdings hat sich mir auch beim zweiten Lesen nicht erschlossen, auch wenn ich Effi an vielen anderen Punkten besser verstanden habe. Ich bin mir auch sicher, dass das mit zunehmender zeitlicher Distanz immer schwerer zu vermitteln sein wird. Es ist ja auch wirklich eine völlig andere Welt, die ja wohl in ihrer Zeit schon recht speziell war. Das bildet ja kein durchschnittliches Leben der Zeit ab.
Die Neuverfilmung habe ich nie gesehen und im Unterricht nur eine, in der ich Crampas so krass unattraktiv fand, dass ich alles noch weniger verstanden habe.
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Da ich gerade eine Arbeit über Geert von Instetten schreibe, möchte ich gern eine Anmerkung machen: die Aussage, dass die Affäre nicht so spannend sein könnte, da Effi und Crampas ja fast nie allein waren, ist so nicht richtig… Tatsächlich schreibt Fontane über Effis ‚Spaziergänge‘, die sie immer so legt, dass keiner mitgehen kann und an deren Ende sie sich zwar immer mit Roswitha und Annie treffen will, aber die Verabredung fast nie einhält… Diese Spaziergänge finden fast täglich statt. Und wenn man genau mitliest, wird klar, dass genau bei dieser Gelegenheit entweder ‚persönliche Treffen‘ oder Briefaustausch stattfinden. (Wie sonst konnte Jahre später ein ganzes Bündel Briefe gefunden werden, die ja nie mit der Post versendet wurden.)
Die Neuverfilmung des Films von 2009 kann sich jeder, der ‚Effi Briest‘ gelesen hat, getrost schenken, sie müsste eigentlich heißen ‚Wie H. H. versucht hat, ‚Effi Briest‘ aufzumöbeln, und dabei leider das Ziel verfehlt hat’… Weiter ins Detail möchte ich lieber nicht gehen, aber der Film ist, besonders auf Grund des Endes, einfach nicht gelungen.
Beste Grüße!
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Danke dir für deine Ergänzung! Du hast natürlich recht – da war doch eine Menge Raum, sich zu treffen und natürlich vor allem Briefe auszutauschen. Anscheinend muss man mir Affären deutlicher erklären, als Fontane es getan hat.
Und danke dir auch für deine Warnung vor der Neuverfilmung. Wobei ich um die meisten Literaturverfilmungen sowieso einen Bogen mache, weil ich mich fast immer aufrege.
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