Die Geschichte von Chrystal Croftangry ist, wie das meiste aus Scotts Werk, in Deutschland kaum bekannt. Es handelt sich bei diesem Buch um eine Sammlung von Geschichten, die Scott schrieb, während er hochverschuldet seinen Broterwerb mit dem Verfassen einer umfassenden Napoleon-Biographie bestritt. Sein Protagonist ist ihm in vielem ähnlich: wie auch Scott ist Croftangry hochverschuldet, wenn auch aus anderen Gründen. Er ist ein auf Abwege geratener Sohn einer reichen Familie, der nach Jahren in der Fremde in seine schottische Heimat zurückkehrt und in Edinburgh wieder sein Glück machen will.
„Sie ließen sich nichts zuschulden kommen gegenüber Gott und den Menschen, die Croftangrys, und wie ich schon gesagt habe: Wenn sie auch nicht viel Gutes taten, so taten die doch auch nicht viel Schlechtes.“
Seine Familie hat sich nie besonders hervorgetan, hatte es einst aber mit ausgedehnte Ländereien zu Geld und Ansehen gebracht. Davon ist nichts mehr übrig, seit der Stammhalter Chrystal Croftangry alles kopflos verjubelt hat. Kurz erwägt Croftangry, eines der gerade günstig zum Verkauf stehenden Anwesen zu erwerben, doch nachdem er mitbekommt, wie abschätzig in seiner alten Heimat inzwischen über ihn geredet wird, nimmt er Abstand von dem Plan und fast einen neuen: Schriftstellerei soll es sein! Dass er recht spätberufen ist, tut seiner Begeisterung keinen Abbruch. Von einer älteren Bekannten, einer vermögenden und zumindest innerhalb Schottlands weitgereisten Frau, lässt er sich alte Geschichten aus den Highlands erzählen, mit denen er sein zukünftiges Publikum begeistern will.
Zwei dieser Erzählungen haben es in diesen ersten Band der Chroniken und in die aktuelle Übersetzung gebracht: Die eine erzählt vom Sohn eines tapferen Kämpfers, der das Herz seiner Mutter bricht, als er sich für die englische Armee meldet, die andere von zwei befreundeten Viehhändlern, einem Engländer und einem Schotten, die über eine Kleinigkeit in Streit geraten. Die Geschichten erzählen nicht nur von der bitteren Rivalität zwischen den Nachbarn, sondern auch von einer Kultur, die damals schon fast Geschichte war. Die Highlander, von denen Croftangry berichten kann, trotzen in ihren Bergen und Tälern zwar noch der englischen Übermacht, längst sind sie aber schon unter deren Einfluss geraten, dürfen keine Tartans mehr tragen und kuschen vor den neuen Herren. Doch ihre alten Sitten, ihre Rituale und ihr Aberglaube sind noch allgegenwärtig.
Mit der Neuübersetzung der Texte werden sie nun wieder in die Gegenwart geholt. Deutlich wird dabei Scotts Fähigkeit, mit leichtem Humor zu erzählen und seinen Charakteren ohne viel Worte Tiefe zu verleihen. Chrystal Croftangry erzählt redegewandt, stilsicher und charmant Geschichten über das Schreiben und über ein Schottland, das es nicht mehr gibt. Nicht nur Fans der Highlands werden daran ihre Freude haben.
Sir Walter Scott: Chrystal Croftangrys Geschichte. Neu übersetzt und herausgegeben von Michael Klein. Morio Verlag 2021. Zuerst erschien der Text 1827 mit etwas anderem Aufbau unter dem Titel Chronicles of the Canongate. Der Text erschien im 19. Jahrhundert in unterschiedlicher Übersetzung unter dem Titel Die Chronik von Canongate oder Chronik des Canongate zu Edinburg.
Das Zitat stammt von S. 42.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Scott hat mich schon im Studium fasziniert, ist aber wg der vielen Dialektpassagen im Original auch echt anstrengend… Deshalb hatte ich meinen Artikel über „Heart of Midlothian“ (https://soerenheim.wordpress.com/2021/06/16/der-kampf-gegen-den-hausmeister-willie-akzent-scotts-heart-of-midlothian/) „Der Kampf gegen den Hausmeister-Willie-Akzent“ genannt… Ich lese es irgendwann immer wie diese Simpsons-Figur. Schade (und auch etwas überraschend), dass es so wenige Scott-Hörbücher gibt. Mit guten SprecherInnen klänge das sicher sehr stark.
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Wenn sowas einmal drin ist, geht es nie wieder weg. In dieser Übersetzung wurde zum Glück darauf verzichten, irgendwelche Dialekte nachahmen oder ersetzen zu wollen. Es wird ja doch immer eine Katastrophe.
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haha, ja 😀 Meine „schönste“ Erinnerung dazu sind die sächselnden NPCs in Baldurs Gate…
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Oh Gott, das klingt wirklich ganz grauenhaft.
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