Natsuki hat einen großen Auftrag auf dieser Erde. Von ihrem Freund Pyut, der für alle anderen wie ein normales Stofftier wirkt, weiß sie, dass sie von einem fremden Planeten namens Pohapipinpopopia stammt und als „Magical Girl“ die Erde retten muss. Der einzige, der ihr Anliegen versteht, ist ihr Cousin Yu, ebenfalls ein Außerirdischer. Leider sehen die beiden sich aber nur einmal jährlich, wenn sie zum Ahnenfest Obon bei der Großmutter sind. Doch dort schließen sie einen Pakt: in einer Art Eheversprechen geloben sie einander, immer bis zum nächsten Jahr zu überleben. Das allein hält Natsuki am Leben.
„Der Eid, den Yu und ich uns geschworen hatten, hatte sich mir tief eingeprägt. Ich musste so lange wie möglich überleben. Ob wir irgendwann einfach sein könnten, ohne immerzu ums Überleben zu kämpfen?“
Denn zu Hause hat sie es alles andere als leicht. Von ihrer Familie wird sie abgelehnt, und insbesondere von ihrer Mutter und Schwester erfährt sie körperliche wie psychische Gewalt. Freundliche Zuwendung findet sie fast ausschließlich bei einem Lehrer, doch die Aufmerksamkeit wird ihr schnell unangenehm, als sie immer mehr zu ungewollter körperlicher Nähe wird. Als Natsuki allen Mut zusammennimmt und sich ihrer Mutter offenbart, glaubt sie ihr nicht. Schließlich vergewaltigt der Lehrer Natsuki, deren Körper darauf mit dem völligen Verlust ihres Geschmackssinns reagiert.
In Natsuki verfestigt sich immer mehr der Gedanke, dass sie mit dieser merkwürdigen, grausamen Welt eigentlich nichts zu tun hat. Auch als Erwachsene fühlt sie sich dem Planeten Pohapipinpopopia verbundener als der Erde. Die japanische Gesellschaft nimmt sie als Fabrik wahr, deren Arbeiter*innen ihre eigenen Organe zur Verfügung stellen müssen, um immer neue Menschen zu produzieren. Sie weigert sich, ein Teil davon zu sein und findet schließlich über eine Internetplattform Tomoobi, dem es ähnlich geht. Die beiden heiraten, um keine unangenehmen Fragen mehr beantworten zu müssen, vermeiden aber jeden körperlichen Kontakt und leben als WG zusammen. Sie fürchten die Abgesandten der Fabrik, die in ihr Privatleben eindringen und fragen, wann es denn endlich Nachwuchs gibt und warum es im Beruf nicht besser läuft.
Schließlich fliehen die beiden in die Berge bei Nagano, wo das Haus von Natsukis Großmutter steht. Dort lebt übergangsweise auch ihr Cousin Yu, den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hat. Auch er ist ein Aussteiger und versteckt sich im abgelegen Ort vor dem langen Arm der Fabrik. Die drei leben so lange Zeit gemeinsam im Haus, dass die Fabrik ganz nervös wird und immer mehr Abgesandte schickt um sie zurückzuholen und die Gehirnwäsche zu Ende zu bringen. Doch sie bleiben stur, schotten sich von der Außenwelt ab und ziehen sich zurück ins Seidenraupenzimmer, das seinen Namen behalten hat, obwohl dort schon lange keine Raupen mehr gezüchtet werden. Statt der Raupen leben dort nun drei Außerirdische, eingewickelt in mehrere Lagen Tatami und sehen hoffnungsfroh ihrem zukünftigen Dasein auf Pohapipinpopopia entgegen. Dabei wünscht sich Natsuki seit ihrer Kindheit eigentlich nichts sehnlicher als eine komplette Gehirnwäsche, die es ihr ermöglicht, ruhig und friedlich als Teil der Fabrik zu leben.
Muratas Roman ist eine stetige Gratwanderung zwischen Realismus und Phantasie. Natsuki entrückt immer weiter von der Welt, hinein in ihre Realität, in der sie eine Außerirdische ist. An Pyuts Fähigkeit zu sprechen hat sie keinerlei Zweifel und zuweilen scheint sie Aussetzer zu haben, in denen sich ihre Wahrnehmung verändert und an die sie später keine Erinnerung mehr hat. Die Menschen der Fabrik haben darauf natürlich einen anderen Blick. Andere Erlebnisse, wie die Vergewaltigung durch den Lehrer, sind unbestreitbar real und, das sei mal zur Warnung gesagt, im Roman auch recht plastisch geschildert. Murata bricht, ebenso wie ihre Figuren, mit etlichen Tabus, zu denen auch Inzucht und Kannibalismus zählen.
Das Hörbuch wird gelesen von Vera Teltz, die Natsuki eine zarte Stimme gibt, die gut zu ihrer Verletzlichkeit und ihrer Außenseiterrolle als Kind passt. Später, als Natsuki älter wird und immer radikaler in ihren Ansichten, entsteht eine gewisse Diskrepanz zwischen dieser ruhigen Stimme und den gar nicht mehr ruhigen Figuren. Die Autorin stellt Natsukis Perspektive mit keinem Satz in Frage. Sie ist ganz klar eine Pohapipinpopopianerin, die Fabrik ihr mächtiger Gegner. Die Abgeschiedenheit des Hauses in den Bergen wird zu einer alternativen, aber lebenswerten Realität und scheint überhaupt nicht unvernünftig und abgedreht zu sein. Und wenn man zwischendrin doch mal denkt, dass die drei ja schon einen gewaltigen Schatten haben, wird schnell wieder die Perspektive gerade gerückt: das denkt nur, wer Teil der Fabrik ist.
tl;dr: Das Seidenraupenzimmer ist ein stellenweise brutaler Roman über eine Frau, die überzeugt ist, nicht von diesem Planeten zu sein und sich dem geltenden System nicht unterordnen kann.
Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer. Übersetzt von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag 2020. 256 Seiten. Gehört in der Ausgabe Aufbau Audio, gelesen von Vera Teltz. Spieldauer ca. 5,5 Stunden.
Das Foto zeigt einen Mann bei der Verarbeitung von Seidenraupen-Kokons; es ist gemeinfrei, der Urheber ist unbekannt und es ist heute im Argentinischen Archivo General de la Nación.
Das Zitat stammt aus Teil 24 des Hörbuchs.
Das ist ein ziemlich harter Roman, beinahe fällt mir schwer zu behaupten, ich hätte ihn „gern“ gelesen. Aber diese Gratwanderung zwischen nüchternem Realismus und (natürlich auch psychologisch ausdeutbarer) Phantastik… das ist schon sehr gelungen. Das geht ja bis in die Spannung zwischen Titel und Text, zumindest ich hätte angesichts des Titels eher etwas verträumt-feinsinniges erwartet.
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Das stimmt, der Titel klingt schon sehr verträumt. Ich glaube, im Original ist er auch wieder mal ganz anders. Der Roman startet aber auch sehr, sehr harmlos. Also auch schon ein bisschen abgedreht, aber sehr charmant. Nun bin ich sicher auch durch den Ton der Lesung beeinflusst, aber für mich war der Bruch dann doch sehr krass und plötzlich. Nun bin ich ja auch kein unbedingter Phantastik-Fan, aber mir war das dann irgendwann schon ein bisschen zu durchgeknallt. Das ist aber nun wirklich meine rein persönliche Abneigung und weder Roman noch Autorin anzulasten.
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Ich bin ja oft auch sehr kritisch, wenn „E“ Autoren versuchen Texte durch Phantastik, besonders das, was man „kafkaesk“ nennt, aufzumotzen, da hab ich ja ne ganze Serie zu (warum man nicht kafkaesk schreiben kann)… das wirkt oft schrecklich gezwungen. Hier fühlte es sich für mich aber recht passend an, gerade weil es so grob-kaltschnäuzig serviert wurde…
Stimmt, den original-Titel hab ich nicht recherchiert…
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